Bevor ihr versucht das Volk zu sein, seid erstmal Menschen

Mit “Teilen statt Spalten” und “Like deinen Nächsten” Schildern steigen Menschenmassen am Montag den 3. September in den Zug nach Chemnitz ein. Sogar durch die Fenster wird geklettert. Bis auf die Gepäckablagen stapeln sich junge Leute. Der Wille in Chemnitz Präsenz zu zeigen ist groß.

Über 65.000 Menschen versammeln sich am Montag im sächsischen Chemnitz, um gegen Rechtsextremismus und für eine offene Gesellschaft ein Zeichen zu setzen. Darunter viele Jugendliche, die Grüne Jugend und Jusos, aber auch Familien, Punks, Alt 68er und “normale” mittelalte Bürger*innen.

Unter dem Motto #wirsindmehr geben Bands wie K.I.Z., Die Toten Hosen, Marteria, Kraftklub, Nura von SXTN und weitere aus eigener Initiative heraus ein kostenloses Konzert, um sich in Chemnitz solidarisch zu zeigen.

Die Massendemonstration ist eine Reaktion auf rechte Aufmärsche in der letzten Woche. Vor einer Woche wurde Daniel Hillig, ein 35-jähriger Lehrling aus Chemnitz, am Rande eines Stadtfestes erstochen. Danach wurden die aktuellen Tatverdächtigen als Menschen irakischer und syrischer Herkunft identifiziert. Auf Bekanntgabe dieser Information hin zogen nahe des Tatorts tausende rechte Anhänger*innen mit Hitlergruß und nationalsozialistischen Parolen durch die Stadt. Es kam zu rassistischen Übergriffen, ebenso wurden Journalist*innen attackiert. So wurde der Tod des jungen Chemnitzers instrumentalisiert, um rechte und als Reaktion darauf auch linke Propaganda zu verbreiten.
Daniel selbst hatte einen kubanischen Vater und klickte laut Tagesspiegel auf Facebook Posts wie „Die Nationalität ist völlig egal! Arschloch ist Arschloch“ auf „Gefällt mir“, war aber laut seiner Frau weder links noch rechts.

Am Montag nach seinem Tod rufen zehntausende Menschen lauthals gemeinsam Parolen wie “Say it loud, Say it clear! Refugees are welcome here!”, später Stille. Die Zigtausend schweigen. Für Daniel Hillig. Eine Minute lang.
Initiativen wie “Chemnitz Nazifrei” treten auf die Bühne, um die lokalen Mitbürger*innen zu animieren über das Montagskonzert hinaus aktiv zu werden.

IMG_4270Trotzdem gibt es auch Chemnitzer*innen, die das Konzert kritisch sehen oder Angst um ihre Sicherheit haben. Zudem sind Songtexte von beliebten Künstlern wie K.I.Z. und Feine Sahne Fischfilet ebenfalls kritisch zu sehen. Auf einer zu Frieden und Toleranz aufrufenden Veranstaltung gewaltverherrlichende Texte wie “Ich ramm die Messerklinge in die Journalistenfresse” zu spielen, selbst in satirischem Kontext, setzt das falsche Signal.
Nichtsdestotrotz steht der Kritik im Vorfeld, die Veranstaltung würde zur “Groß Party” werden, auch die friedliche Thematisierung politischer Inhalte entgegen.

Die Geschehnisse in Chemnitz sind lediglich ein Symptom der aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklung, dessen Ursprung woanders liegt.
Populismus findet seinen Nährboden in Unsicherheit und Unbehagen. Dieses Phänomen ist in Deutschland durch ein Unbehagen der Bevölkerung zu erkennen. Dabei wird momentan vor allem die Geflüchteten- und Migrationspolitik in den Fokus gestellt, obwohl das Unbehagen der Bevölkerung ihren Ursprung in einer innenpolitischen Unsicherheit findet. Rechtspopulistische Parteien wie die AfD emotionalisieren dieses Unbehagen.
Die eigentliche Realität, wie beispielsweise Altersarmut oder Mangel an bezahlbarem Wohnraum, werden überschattet. Die Existenzängste der Bürger*innen werden geschürt, um Feindbilder zu schaffen. Zur Meinungsbildung reicht dann schon ein Schnipsel von Informationen, wie im Fall Chemnitz die Zeile: “Iraker und Syrer als Tatverdächtige festgenommen”, um Menschen für die Rechte zu mobilisieren.

Es wird niemand als Nazi geboren und auch die 4000 Rechten in Chemnitz haben wohl einen Anteil von Bürger*innen, die eigentlich andere Ängste haben und verunsichert sind. Dabei liegt ihr eigentliches Problem nicht bei den Geflüchteten. Das entschuldigt ihr Mitlaufen bei nationalsozialistischen Kundgebungen jedoch auch nicht.

IMG_4275Dass die Bevölkerung Rechtsextremismus mehrheitlich ablehnt, zeigen Aktionen wie #wirsindmehr trotz allem. Auch wenn die Befürworter*innen einer offenen Gesellschaft nach Montag vermutlich erstmal wieder weniger in Chemnitz sein werden, müssen wir uns alle progressiv an einem Zusammenhalt in Vielfalt, statt einer Spaltung des Landes durch Ausgrenzung und Hass beteiligen. #wirsindmehr ist ein kleiner Teil davon. Überall im Land, ob in Chemnitz, Berlin, Hildesheim oder dem kleinsten Dorf Brandenburgs: werdet kritisch, hinterfragt und bleibt aktiv. Macht deutlich, dass Rassismus und Hass keinen Platz in unserer Gesellschaft haben.

Egal, ob links, grün, rot oder bunt, es gilt menschlich zu sein. Zumindest diese Menschlichkeit und Solidarität lebte #wirsindmehr am Montag in Chemnitz Deutschland vor.
Ein Artikel von Céline Weimar-Dittmar

Fotos von Céline Weimar-Dittmar

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