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Die folgende Reportage ist Teil einer zweiteiligen Reihe, die sich mit der aktuellen Situation von Geflüchteten in den französischen Städten Ouistreham und Caen auseinandersetzt.
Es ist Abend. Wir sitzen zu dritt auf der Bordsteinkante, die einen Wendekreis umgibt und beobachten die Enten, die aus dem daneben verlaufenden Schiffskanal gewatschelt kommen. Sie kämpfen mit den Möwen um die übriggebliebenen Brotstücke und Reisbrocken, die verstreut auf dem Asphalt liegen.
Nach einer Weile beginnt Amar, derjenige von uns, der schon am längsten in Nordfrankreich ist, von seinem heutigen Tag in Ouistreham zu erzählen. Er, sein Cousin und fünf weitere haben es geschafft, unbemerkt in den Innenraum eines Lastwagens zu gelangen. Beinahe wären sie zu siebt durchgekommen, doch dann wurde Amar zusammen mit seinem Cousin und einem anderen doch noch von der Polizei entdeckt und aus dem LKW geholt. Die anderen vier seien nun auf dem Weg nach England, fügt er lächelnd hinzu.
„Das Spiel“
Dieses vermeintliche Spiel gegen die Polizei und damit den französischen Staat, das von vielen Geflüchteten auch so bezeichnet wird, wird in Ouistreham täglich zwei bis drei mal „gespielt“. Jedes Mal, bevor eine Fähre Richtung Großbritannien ablegt, sind in der Stadt, zahlreiche Polizeiautos sowie stark bewaffnete Polizist*innen und Menschen, die dem Militär angehören, zu sehen. Sie sind in diesem Spiel meistens die „Gewinner“. Dass die Menschen in die LKWs oder Vans gelangen und sich dort in kürzester Zeit gut genug verstecken können, ist die Ausnahme.
Als wir später darauf zu sprechen kommen, was passiert oder passieren kann, wenn die Polizei Menschen aufspürt, meint Amar, dass sie meistens entspannt reagieren und die Leute wegschicken. Er wurde jedoch auch schon zusammen mit anderen in einen Bus gesteckt, nach Italien gebracht und dort irgendwo ausgesetzt. Andere Flüchtende haben mehrmals von Situationen erzählt, in denen Menschen, die sich an fahrende LKWs geklammert haben, mit Pfefferspray zum Loslassen gezwungen wurden.
Die Situation und sämtliche Probleme, die sich für die flüchtenden Menschen ergeben, sind nicht neu.
Ein großes Problem ist, dass es in Ouistreham, eine Stadt die 9.000 Einwohnende zählt, weder ein Camp, noch eine sonstige Unterkunft gibt. Dadurch sind ein Großteil der gut 200 Geflüchteten gezwungen, auf der Straße zu leben. Viele entscheiden sich dazu, auf Grünstreifen entlang der zentralen Hauptstraße, zu schlafen, um alle einfahrenden Fahrzeuge zu jeder Zeit sehen zu können. Wer ein Zelt aufschlägt wird mit Pfefferspray verjagt oder für 45 Tage in eine Gefängniszelle gesteckt. (Sämtliche Informationen wie diese, bezüglich konkreten Ereignissen in Ouistreham zwischen Geflüchteten und Polizist*innen stammen aus Gesprächen mit verschiedenen Menschen auf der Flucht. Anm. d. Red.)
Die Situation und sämtliche Probleme, die sich für die flüchtenden Menschen ergeben sind nicht neu. Deshalb haben sich mittlerweile Menschen, die aus Ouistreham und Umgebung kommen organisiert, um die vielen neuen Obdachlosen in der Stadt zu unterstützen. Jeden Tag wird auf dem Wendekreis, auf dem wir sitzen, Frühstück und Abendessen an alle die dort hinkommen verteilt. An manchen Tagen verteilen zusätzlich Leute warme Klamotten, Schuhe und Decken.
Ich fahre zusammen mit einer Gruppe von fünf Menschen zu der Verteilung in Ouistreham. Alex, die sich bereit erklärt hat, meine Fragen zu beantworten und alles zu zeigen, erklärt mir auf der Fahrt im vollgestopften VW-Bus, dass sie vier mal die Woche nach Ouistreham fahren. Dort verteilen sie Frühstück und Tee, wobei sie nur selten die Lebensmittel dafür einkaufen. Stattdessen nutzen sie ihren Ruf vor Ort und bekommen oftmals mehrere Säcke überschüssiges Brot einer Bäckerei oder kistenweise Obst und Gemüse von anderen Unterstützer*innen. Ein weiterer wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit seien die zwei Duschzelte mit dazugehörigen Campingduschen, die neben dem Frühstückstisch aufgebaut werden. Dazu gibt es frische Handtücher und es werden gespendete Kleidung und Schuhe ausgelegt. Gerade jetzt, vor den anstehenden Wintermonaten, würden Sachspenden gebraucht, damit ein Vorrat angesammelt werden kann.
„Wir sind einzelne Menschen, die der Wunsch nach offenen Grenzen und mehr Selbstorganisation vereint.“
Mit einem Leuchten in den Augen zeigt mir Alex eine grüne Kiste, in der sich eine Konstruktion mit zwei Autobatterien befindet. „Damit können alle ihre Handys und Smartphones aufladen, das ist mega wichtig, da sie meistens die wichtigste Informationsquelle und die einzige Verbindung zu Familie und Freund*innen sind.“ Beim täglichen Versuch, die Staatsgrenzen zu überwinden, gingen sie leider immer wieder verloren oder kaputt, weshalb auch Smartphonespenden mit Aufladekabel sehr willkommene Spenden seien, versichert mir Alex.
„Wir sind kein Verein, keine NGO (Nicht-Regierungs-Organisation Anm. d. Red.) und auch keine sonst zu bezeichnende Gruppierung. Wir sind einzelne Menschen, die der Wunsch nach offenen Grenzen und mehr Selbstorganisation vereint“, erzählt mir Alex, bevor wir von der Bordsteinkante aufstehen. Dann helfen wir den anderen dabei, das Geschirr und die Becher zu spülen, die nassen Duschzelte zum Trocknen in die Sonne zu stellen und alles sonstige Aufgebaute zusammen zu packen und wieder ins Auto zu räumen.
Auch die Möwen und Enten sind mit ihrem Fressen fertig und begeben sich wieder in den Kanal oder Richtung offenes Meer. Das ist der Moment, in dem die Ratten aus ihren Löchern in der Erde zwischen Wendekreis und Kanal gekrochen kommen. Sie stöbern alles auf, was die Enten und Möwen nicht gefunden haben oder was ihnen nicht schmeckt und befreien den Platz von den letzten Essensresten. Wenn wir den Platz hinter uns lassen deutet nichts mehr darauf hin, dass sich hier soeben 150 Menschen versammelt haben, um zu essen, zu duschen, ihre Handys aufzuladen und einen Fußball hin und her zu schießen.
Der*die Autor*in zieht es vor anonym zu bleiben.
Titelbild mit freundlicher Genehmigung des*der Autor*in.
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