In der letzten Schulstunde vor den Sommerferien fragte meine Klassenlehrerin jede*n von uns, wo wir die freie Zeit verbringen würden. Nils fährt an die Nordsee, Lucas nach Frankreich, Viktoria nach Italien und ich fahre weder nach Frankreich noch nach Italien – meine Reise ging nach Polen.
Ich freute mich sehr über die Sommerferien, über die Autofahrt nach Polen, die Natur. Als mich also meine Lehrerin in der letzten Schulstunde fragte, was mich diesen Sommer erwarten würde, war klar, dass meine Antwort nicht Polen sein würde.
Es gab in dieser Klasse drei Kinder mit Elternteilen, die nicht in Deutschland geboren wurden. Jedoch hatten nur zwei von uns das Los einer, in der Klasse eher unbeliebten Abstammung gezogen: ein Kroate, ein Pole. Es gab auch einen Franzosen in der Klasse, zweisprachig aufgewachsen, gut in der Schule und mein bester Freund.
Er war das Gegenteil von uns, ein Vorbild wie Migration auszusehen hatte: Sie kam niemals aus dem Osten oder Süden, vielleicht noch aus Spanien oder so östlich, dass es alles „unkultivierte“ ablegen konnte, irgendwo aus dem Himalaya oder vielleicht Japan.
Jeden noch so unbedeutenden Hinweis, der meine nicht ausschließlich deutsche Abstammung entlarven konnte, ließ ich spurlos verschwinden.
Meine Herkunft zu verschweigen, lernte ich schnell. Es wurde mir so anerzogen. Da meine Mutter aus Polen kam, mein Vater aber Deutscher war und ich somit einen deutschen Namen trage, konnte ich meiner Person ein durchweg „deutsches“ Image geben. Ich sprach nicht über die Reisen, die wir nach Polen machten, die Sprache, die ich jeden Tag hörte oder das Essen, welches wir aßen.
Jeden noch so unbedeutenden Hinweis, der meine nicht ausschließlich deutsche Abstammung entlarven konnte, ließ ich spurlos verschwinden. Ich lernte eine andere Identität anzunehmen und konnte weitestgehend unbemerkt mein noch junges Leben bestreiten.
Im Rahmen eines Schulprojektes sollten wir einmal unsere Lieblingsrezepte vorstellen und eine genaue Anleitung der Arbeitsschritte als Hausaufgabe erstellen, die dann jede*r vor der Klasse vortragen sollte. Wie zu erwarten hörte man oft Pizza und Pasta, Pommes und Würstchengulasch – bis heute ist mir der Gedanke an ein Gulasch aus Würstchen suspekt – die üblichen Gerichte, die Kinder in Deutschland ebenso mögen.
Bei uns Zuhause gab es nichts von alledem, selbst Nudeln eher selten und mein Lieblingsessen waren diese schon gar nicht. Mein Lieblingsessen waren mit Fleisch gefüllte Piroggen, die ich nur im Sommerurlaub in Polen aß, da die Herstellung dieser Piroggen meiner Mutter zu viel Arbeit bereitete. Da ich aber niemals auf die Idee gekommen wäre, dies öffentlich zu erwähnen, schaute ich den ganzen Nachmittag Kochsendungen, um ein Rezept zu finden, welches deutscher hätte nicht sein können: Forelle gegart in Milchsoße.
Er war mutiger als ich und deutsch war mein Rezept schon gar nicht.
Ich schrieb jeden einzelnen Kochvorgang, den, ich glaube es war Alfred Biolek, vollzog, auf. Wie man an der Rückenflosse testete, ob der Fisch gar war, dann mit Zitrone und Muskat am Ende alles abschmeckte, um dann mein typisch mittelständig-deutsches Rezept von meiner durchweg deutschen Mutter am nächsten Tag zu präsentieren.
Davon ausgegangen, dass ich mit meiner in Milch gegarten Forelle die Krönung der deutschen Küche präsentieren würde, war ich umso erstaunter, als mein kroatischer Mitschüler die Zubereitung von Cevapcici vorstellte. Er war mutiger als ich und deutsch war mein Rezept schon gar nicht.
Es fiel mir leicht nicht durchblicken zu lassen, dass ein Teil meiner Person nicht deutsch ist. Daher versuchte ich unerbittlich den Kontakt meiner Mutter mit meiner „deutschen Welt“ zu vermeiden. Ich vermied es ihr Bescheid zu geben, wenn ich irgendwo hingebracht werden sollte, Eltern sich zum Elternbeirat aufstellen lassen konnten, beim Kuchenverkauf des Fördervereins helfen durften oder um mich von der Bushaltestelle nach der Klassenfahrt abzuholen.
Diese diffuse Angst „aufzufliegen“ begleitete mich überall hin und sie begleitete auch meine Mutter.
Meine Mutter war frisch verliebt und stand kurz vor ihrem Schulabschluss in einer Kleinstadt in Polen, als ihr Vater beschloss, mit der ganzen Familie nach Deutschland zu kommen. Sie verkauften ihr Haus und ließen alles hinter sich, um erst einmal bei fernen Verwandten meines Großvaters unterzukommen. Alle lernten sie die Sprache fließend, arbeiteten viel, kauften sich Häuser und aßen schließlich mehr Kartoffeln als irgendein Deutscher, den ich je getroffen habe. Sie verstanden es als ihre natürliche Aufgabe, sich dem Niemieckość (pl.: Deutschtum) vollkommen anzunehmen und fast schon zu einem Deutschen 2.0 zu werden, einem „besseren“ Deutschen als es Deutsche je hätten sein können.
Daher bestand meine Mutter darauf, dass wir fast ausschließlich Deutsch sprachen, um so der „Integration“ keine Probleme zu bereiten und uns die Frage unserer Zugehörigkeit vorwegzunehmen.
Diesen grotesken Schlachtplan der Germanisierung meiner Schwester und mir, hätte sich kein Preuße besser ausdenken können und wurde so zu unserem ganz eigenen Dogma. Dabei war meine Mutter ganz und gar nicht „deutsch“. Sie lehnte diese Zuschreibung für sich sogar vollkommen ab und scherzte oft darüber, dass sie eigentlich eine Ostpreußin war – Betonung auf „Ost“.
Eine deutsche Frau wurde sie nie.
Eine, die bedacht und genormt handelt.
Eine, die nicht in hohen wechselnden Tönen und schon gar nicht zu laut sprach.
Eine, deren Sprache adäquat und angemessen, wenig emotional und immer im Rahmen blieb.
Eine deutsche Frau, die besonnen und freundlich auftrat, aber bloß nicht zu freundlich, das wäre sonst unnatürlich – nicht passend!
Eine deutsche Frau hatte ihren Platz in dieser Gesellschaft bereits gefunden.
Heiligabend hingegen wurde über die deutsche Esskultur geschimpft, wie man überhaupt nur auf die Idee käme, Kartoffelsalat und Würstchen an so einem bedeutenden Tag zu reichen
Hört man einmal Pol*innen bei einer Unterhaltung zu, bemerkt man schnell, mit welch rasanten Tonwechseln und Geschwindigkeiten man sich voller Inbrunst in, für deutsche Ohren, verklumpten sz-, cz-, ś- Lauten, überwältigt von tosenden Gefühlen, Worte zuwerfen kann und dies soll eine Sprache sein? Eine Sprache, die Teil meiner Identität ist, aber sich querstellte, würde ich Deutscher sein wollen.
Seit dem habe ich viel Zeit aufgebracht meine Defizite im Polnischen zu beheben. Auch unser Familienalltag schien keinen „einheitlich“ kulturellen Regeln zu folgen, man war aber stets darauf bedacht, den Deutschen den Vorrang zu lassen. Wir sollten deutsch sein, deutsch sprechen, aßen aber polnisch, redeten über Polen und erschufen bis zur Unkenntlichkeit geformte „Miszwörter1“.
Heiligabend hingegen wurde über die deutsche Esskultur geschimpft, wie man überhaupt nur auf die Idee käme, Kartoffelsalat und Würstchen an so einem bedeutenden Tag zu reichen, wo sich doch die mit Essen überladenen Tische in Polen biegen mussten.
Auf der einen Seite standen reich gedeckte Tische, mit Lametta überladene Tannenbäume, deren Äste sich beim Vorbeigehen wie ein nasser Mopp hin und her wiegten, eine kugelrunde Babcia, die in ihrem glitzernden Pailletten-Pullover dem Tannenbaum optisch in nichts nachstand, während sie Schüssel für Schüssel Essen aus der Küche trug. Hingegen sich auf der anderen Seite so eine bescheidene, schon fast ärmliche Feiertagskultur befinden sollte?
Ich verstand die Welt nicht mehr.
Schließlich erschuf mein kindliches Gehirn eine eigene Version, wie es erst zu so einer kulturellen Differenz an Heiligabend kommen konnte:
Die Deutschen feierten den Tod Jesus Christus, die Polen die Geburt. Schlicht ein grober Übersetzungsfehler der Bibel, so glaubte ich. Als vermeintlicher Kulturvermittler beider Seiten, versuchte ich lange Jahre Verständnis bei der anderen Seite für dieses grobe „Fehlverhalten“ zu schaffen – vergeblich.
Mittlerweile bin ich aufgeklärter über die Traditionen und weiß, dass am 24. Dezember überall die Geburt Jesus gefeiert wird, sogar in Deutschland. Kartoffelsalat mit Bockwurst verschmähe ich jedoch noch immer. Heiligabend war letztendlich der einzige Tag, an dem sich das katholische Polentum nicht deutschen Sitten beugen wollte.
Wenn ich heute über meine polnische Herkunft spreche, dann ertappe ich mich manchmal noch in einer herablassenden Haltung gegenüber dem Land.
Die restlichen Tage des Jahres waren wiederum durch Pragmatismus und dem Wissen bestimmt, dass man es im Leben nur zu etwas bringen würde, wenn kein polnischer Fleck auf der deutschen Bluse zu sehen war. Nur wenn jede Naht eine Deutsche ist, erreicht man etwas in dieser Gesellschaft. Bis auf diese Überbleibsel, Relikte einer Migration, kam das Übrige ganz von alleine und ich habe mich der deutschen Mehrheitsgesellschaft vollkommen angepasst, mich „assimiliert“.
Wenn ich heute über meine polnische Herkunft spreche, dann ertappe ich mich manchmal noch in einer herablassenden Haltung gegenüber dem Land. Wie ein zu arroganter alter Mann, erlaube ich mir Politik und Gesellschaft zu bewerten. Kritisiere zu viel, bin zu überheblich und eigentlich weiß mein deutsches Ich es besser: Es sind halt Polen. Eine Haltung gegenüber diesem Land, die ich mir angewöhnt habe, sollte ich mich doch mit allen Mitteln in diese Gesellschaft einfügen, Teile ihrer Denke annehmen.
Ich habe mich ja schließlich vollkommen „emanzipieren“ können und mich in eine bessere deutsche Sphäre befreit.
Nichts weist darauf hin, dass ich kein Teil dieser „deutschen“ Mehrheitsgesellschaft bin. Weder der Nachname, noch die Sprache oder mein „Aussehen“. Doch so ganz angehören tut man diesem exklusiven Club dann trotzdem nicht. Es gibt nämlich kein Aufnahmeritual, keine Prüfungen, die man bestehen kann, um dazuzugehören.
Deutsche*r ist man eben nur zu einhundert Prozent oder man ist eben keine*r, scheinbar.
Aber wer ist man dann? Wer bin ich? Die Zuschreibungen von außen sind ja schließlich alle falsch. Alle Versuche mir eine Zugehörigkeit zuzuschreiben haben nicht funktioniert und nun stehen wir vor einem diffusen Haufen voller Scherben, die nicht so richtig einem Gegenstand zuzuordnen sind. Weder deutsch noch polnisch, vielleicht europäisch oder gar Weltbürger?
So genau wissen das wohl viele Menschen immer noch nicht, genauso wenig wie ich das tue. Manchmal wenn ich Besuch zu Hause erwarte, die Wohnung putze, koche und ganz nach polnischer Manier meinen Gästen einen warmen Empfang bereiten möchte, frage ich mich, ob es nicht nun endlich an der Zeit wäre, Forelle in Milchsoße zu servieren. Wenn meine Gäste dann verdutzt fragen würden, wie ich an dieses „exotische“ Rezept gekommen wäre, würde ich vielleicht antworten, dass es ein altes deutsches Familienrezept sei. So alt, dass viele Deutsche davon gar nichts mehr wüssten.
Richtig deutsch eben.
Anmerkung des Autors:
Bei dem Text handelt es sich ausschließlich um meine persönliche Wahrnehmung bezüglich der Erfahrungen sich einer deutschen Mehrheitsgesellschaft vollkommen anpassen zu müssen.
1Miszwörter (dt.:Mischwörter) – Vermischung von deutschen und polnischen Wörten wie etwa: Miszmasz- Mischmasch.
Ein Artikel von Benjamin Vogel
Titelbild mit freundlicher Genehmigung von Jeremias Kempt