Eine Rezension zu „MIROLOI“ von Karen Köhler
In „Miroloi“ dreht sich alles um eine junge Frau ohne Namen. Aus ihrer Perspektive lernen wir ihre Welt kennen, das Dorf, in dem sie groß geworden ist. Mit ihr entdecken wir die Insel, auf der das Dorf liegt. Mit ihr erforschen, ertasten, erriechen wir diesen abgeschiedenen Ort. Die Oliven sind dabei genauso wichtig wie die alten Frauen, die in der Kurve des Weges sitzen, die Margeritenköpfe zwischen den Steinen sind genauso nennenswert wie der Dorfvorsteher. Alles ist gleichwertig, alles nennt sie der Reihe nach beim Namen.
Am Anfang des Buches ist das noch etwas anstrengend – denn das Mädchen kann nicht lesen und schreiben. Deswegen ist auch ihre Sprache in den ersten Kapiteln einfach und spröde. Doch ihr Hunger nach Wissen treibt sie weiter. Die Suche nach der eigenen Identität und Herkunft kreuzt sich mit der Gier nach der Welt. Das Hilfsmittel dabei: Ein Lexikon. Mit dem Lesen und Schreiben kommt die Selbstermächtigung und das Buch wird immer komplexer, die Sätze feiner und runder. Einzelne Strophen von „Miroloi“, dem Totenlied, sind dabei sehr ungewöhnlich und erinnern allenthalben eher an einen Bühnenmonolog oder einen Performancetext als ein Romankapitel.
„Ich kann pflügen wie ein Mann. Und ich will immer noch gerne lernen, wie das mit den Buchstaben geht. Aber der Lehrer, aber die Gesetze, aber die Ältesten, aber die Tradition, aber die Khorabel, aber die Götter, aber die Ordnung.“
Im Laufe der Erzählung beginnt sie, die Regeln und Verbote des archaischen Dorfes immer mehr zu hinterfragen. Wieso dürfen Frauen eigentlich nicht lesen und schreiben lernen? Warum keine Hosen tragen, nicht im Ältestenrat mitbestimmen?
Als Außenseiterin schaut sie auf ihre Gesellschaft und kann sie genau analysieren. Als Person ohne Namen und ohne Familie, der alle Rechte abgesprochen werden, sieht sie die Unterdrückung der anderen Frauen mit messerscharfen Augen. Ihre besondere Position führt schließlich zu einem Wendepunkt: Ihr Begehren nach Gleichberechtigung und nach Gerechtigkeit gipfelt im Widerstand gegen die Gemeinschaft.
„Jetzt ruhen wir uns über die Mittagshitze hinweg aus. Die Männer jedenfalls. Im Haus gibt es ja immer viel zu tun.“
Die Autorin Karen Köhler hat hier ein eindrückliches wie einfaches Schema angelegt, das gelegentlich durchschaubar ist: Das Patriarchat manifestiert sich in einem Ältestenrat, der mithilfe eines von ihm zensierten und umgedichteten religiösen Buches über das Dorf herrscht. Völlig abgekapselt von der Außenwelt und ohne fließend Wasser und Strom schuften die Frauen Tag und Nacht für die trink- und gewaltfreudigen Männer. Als eines Tages ein Beamter des Festlandes auf die Insel kommt, freuen sich die Frauen über den versprochenen technischen Fortschritt und die elektrischen Haushaltsgeräte. – Ob Frauenbefreiung so einfach zu erreichen ist?
„Ich spüre das Gefüge aus Macht und Ohnmacht, spüre die Klammer von Daswarschonimmerso und Daswirdimmersobleiben um die Köpfe und Herzen. Wut steigt in mir auf, und ich krieg sie dieses Mal nicht weg, weil da ein Riss in meinen Gehorsam geraten ist und eine Knospe.“

© Christian Rothe (www.christianrothe.com)
Das Mädchen begehrt gegen die Unterdrückung auf, entdeckt ihre weibliche Lust, hinterfragt alles und jeden. Als feministische Leserin macht das Freude, es bekräftigt die eigenen Standpunkte und bindet auch auf eine emotionale Weise an die starke Protagonistin. Sehr erfrischend ist auch die zarte Figur des Jannis, der sich gerne die Haare flicht und sich nicht in die starre Ordnung des Dorfes einfügen kann. Denn, und das erzählt „Miroloi“ auf ganz schlichte Weise, nicht nur Frauen leiden unter patriarchalen Strukturen, sondern eben auch alle anderen Geschlechter.
Bei solch wichtigen Erkenntnissen bietet „Miroloi“ genug Fiktion, um nicht alles genau auf unsere Zeit und Gesellschaft zu übertragen und den Lesenden auch Interpretationen offen zu lassen. Köhler hat hier eine ganz eigene kleine Welt entworfen, die voller Brachialität, voller Mythen steckt. Gleichzeitig erkennt man in allen Eckpfeilern der Erzählung, der Figuren und auch einzelnen Sätzen definitiv genug Realismus, um Parallelen und Missstände aufzuzeigen.
Burkhard Müller schreibt in der „ZEIT“:
„Der Gestus der Rebellion rennt offene Türen ein; was sich als krasses Außenseitertum in einer Märchenwelt inszeniert, ist hier und heute längst Mainstream geworden.“
Ja, der Feminismus ist teilweise kommerzialisiert worden und – in verdaulicher Form – im Mainstream angekommen, aber bedeutet das im Umkehrschluss etwa, dass er schnellstmöglich wieder aus allen Bestsellerlisten verschwinden sollte oder dass er hiermit in irgendeiner Weise abgeschlossen ist? Man muss sich nur kurz an die mindestens 125 Femizide in Deutschland 2019 erinnern, so liest sich Müllers Kommentar geradezu zynisch.
Denn: als Content Note muss genannt werden, dass in “Miroloi“ sexueller Missbrauch, Gewalt und Mord zum Thema gemacht werden. Diese Passagen treten an einigen Stellen unvermutet und überraschend ein. In der streckenweise etwas flachen Handlung tun sich so immer wieder tiefe Abgründe auf. Dabei sind diese Szenen trotz ihrer Wucht oft auf eine zarte, teilweise sogar beiläufige Weise erzählt, die beim Lesen wütend macht. So etwas passiert nun mal hier auf der Insel, Tag für Tag. Nur, wie gehen wir jetzt damit um? Und wer könnte uns den Weg in eine befreite Gesellschaft weisen?
„Die Aussicht macht mir Vögel in der Brust, die mit ihren Flügeln nach meinen Knochen schlagen.“

Eine Rezension von Jule Waizenegger
Bilder mit freundlicher Genehmigung vom Hanser Verlag
Klingt gut, danke dafür! Was mich als Mann interessiert – weil die Begriffe Feminismus und Patriarchat ja leztlich doch Schuld- ud Recghtzuschreibungen sind – wird denn auch erwähnt oder thematisiert, dss das Patriarchat keine Männererfindung ist, sondern das ses zum gleichen Teil, in vielen Gesellschaften sogar zuvorderst die frauen sind, die das Patriarchat ermöglichen, manifestieren? Das ärgert mich leider an feministischer Literatur oftmals. Dass das Abschaffen des Patriarchats allen zugute komt: JA! Dass sich dafür aber zuvorderst Frauen ändern müssen: wird geren unter den Teppich gekehrt, oft wird es so hingestellt, als müssten nur die Kerle sich ändern und alles wäre gut. Dabei machen die Kerle seit Jahrtausenden nur das, was sich vor Frauen bewährt. Das leider sehr erfolgreich.
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