„Politisch aktiv zu sein benötigt zu viel Zeit.“
„Ich würde ja gern etwas gegen Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten tun, aber das ist einfach nicht vereinbar mit meinem restlichen Alltag.“
Sätze wie diese höre ich oft und kann die Einschätzung nachvollziehen, wenn ich beispielsweise von einer Schülerin höre, dass sie wöchentlich 25 Stunden für Fridays for Future arbeitet. Eine solche Stundenzahl an unbezahltem, politischem Engagement entbehren zu können, ist ein Privileg, das leider nur wenige Menschen genießen. Wer nebenher noch Geld verdienen muss, um zum Beispiel eine Wohnung zu finanzieren, kann dem unbezahlten Teilzeitjob namens Aktivismus nicht nachgehen.
Dass es nicht zwingend einen Teilzeitjob benötigt um gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben und welche Möglichkeiten es gibt, Aktivismus in den Alltag zu integrieren, möchte ich anhand von konkreten Beispielen aufzeigen.
Kennst du das, wenn du von einer Demo nach Hause läufst, dein selbst gemaltes Schild hängt um deinen Hals und obwohl du alleine bist, starren die Menschen, denen du begegnest, ausnahmslos auf dein Schild? Während der Demonstration hattest du die ganze Zeit das Gefühl, dass sich umstehende Menschen eher abgewandt haben und Blickkontakt mit der Masse an Demonstrierenden vermieden haben. Warum ist das Interesse für das Schild, abseits der Demonstration auf einmal so groß?
Gründe dafür gibt es viele. Aber zentral ist doch vor allem, dass du scheinbar mit deinem Schild dort mehr Aufmerksamkeit bekommst, wo niemand mit dir rechnet. Plötzlich bist du nicht mehr Teil einer protestierenden Masse, die von Polizeiketten umringt ist, sondern wirst als einzelner Mensch wahrgenommen, der auf etwas aufmerksam machen will.
Was heißt das für dich, wenn du deinen Alltag widerständiger gestalten möchtest?
Als Erstes soll es zeigen, wie effektiv es sein kann, im kleinen Stil politische Statements in den öffentlichen Raum zu tragen. Zum Beispiel wirst du mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einem umgehängten Schild auf dem in großen Buchstaben steht: „Ich fahre ohne Fahrkarte und zwar straffrei“ Gespräche mit Mitfahrenden provozieren. Durch weitere Informationen auf deinem Schild kannst du diese lenken, indem du beispielsweise politische Forderungen wie „Kostenloser Öffentlicher Nahverkehr für alle!“ oder eine Aufforderung an die Lesenden wie „Sprechen Sie mich an für mehr Informationen“ auf dein Schild schreibst.
Ausführliche Infos zum sichtbaren Fahren ohne Fahrkarte als Aktionsform gibt’s hier.
Veränderung ohne Vorbereitung
Doch auch Veränderung ganz ohne Vorbereitung und Organisierung einer Aktion ist möglich. Dafür ist es zunächst wichtig, sich den vielseitigen und überall auftretenden Unterdrückungsmechanismen in der Öffentlichkeit bewusst zu werden. Sexistische Werbung, rassistische Polizeikontrollen, das Verbot auf einer Bank im Bahnhof zu schlafen, im Supermarkt vor Produkten zu stehen, für die Mensch/Tier/Natur entweder extrem ausgebeutet wurden oder ein bisschen weniger extrem, einen Euro zahlen zu müssen um pinkeln zu dürfen, nur um sich dann mit keinem der Aufschriften der beiden Klotüren identifizieren zu können.
Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden.
Diesen Dingen täglich ausgesetzt zu sein ist schlimm und kann wütend machen. Um jedoch auf Dauer nicht zu resignieren und zu versuchen, alles zu ignorieren was stört, hilft es, sich Wissen und Werkzeuge anzueignen, die helfen, deine Umgebung nach deinen Vorstellungen umzugestalten. Mit einer Portion Ungehorsam und Kreativität lässt sich Wut und Frust durch selbstermächtigte Maßnahmen in Widerstand umwandeln.
Folgende Dinge können dir helfen, spontan auf ungerechte Situationen und diskriminierende Bilder zu reagieren.
- Mit starken Filzstiften wie Eddings können Plakate, Toiletten, und leere Flächen verändert und umgestaltet werden.
- Klebeband hilft, wenn du Infomaterialien in Toiletten oder eigene Plakate anbringen willst.
- Sticker sind ebenfalls nützlich, um diskriminierende Sticker zu überkleben oder aber auch Sonstiges zu kommentieren. Nützlich können leere Etiketten in Kombination mit Stift sein, um spontan und trotzdem konkret zu kritisieren und zu kommentieren.
- Konfetti, Glitzer, Luftschlangen und Parfüm können dazu beitragen, Situationen aufzulockern und Autoritäten oder Macker*innen lächerlich und weniger gefährlich erscheinen zu lassen.
- Alarmstifte sind kleine Sirenen die beim Ziehen des Stiftes ununterbrochen Lärm machen und nicht wieder ausschaltbar sind. Sie sind eigentlich dafür gedacht, um bei Situationen in denen du dich bedroht fühlst, schnell auf dich aufmerksam zu machen. Doch genauso eignen sie sich, um hetzende Reden oder elitäre Veranstaltungen zu stören.
- Verkleidungsutensilien wie Warnwesten oder seriös wirkende, wechselbare Schildchen mit Aufschriften wie Presse, Sicherheitsdienst oder was du sonst sein willst, sind nützlich um zum Beispiel Zugang zu exklusiven Orten zu bekommen.
- Handschuhe dabei zu haben ist in vielerlei Hinsicht sinnvoll: Beim Wühlen in Containern, gegen Kälte oder wenn du Fingerabdrücke vermeiden willst zum Beispiel. Außerdem sind Tüten immer praktisch und sparen dazu noch Plastik.
Dies ist natürlich keine vollständige Liste. Es gibt zahlreiche weitere Ideen für spontanen, kreativen Protest und außerdem entstehen durch neue gesellschaftliche Entwicklungen, neue Möglichkeiten des Widerstands.
In Zeiten von Coronavirus beispielsweise, in der sich zahlreiche gesellschaftliche Normen massiv verändern, machen sich Unsicherheiten auf Grund von Ungewissheiten breit. Diese bieten einmalige Möglichkeiten, Diskurse aus neuen Perspektiven anzustoßen, wie beispielsweise das Thema Miete. Da auf Grund jüngster Ereignisse mehr Menschen bedroht sind, ihre Wohnungen zu verlieren, steigert sich auch die Notwendigkeit über zu hohe Mietpreise zu streiten.
Denk dran, dass du das Rad nicht neu erfinden musst. Bedien dich an bereits ausprobierten Ideen, eigne dir Wissen an, tausche dich mit Leuten aus, denen du vertraust, erwarte nicht zu viel von einer Aktion und pass vor allem auf dich und deine Freund*innen auf! Dass viele der beschriebenen Strategien gesetzlich verboten sind, solltest du mitdenken und am Besten gleich mit hinterfragen.
Gesellschaftlicher Wandel braucht Zeit und verlangt deshalb einen langen Atem von denen ab, die ihn vorantreiben.
Weitere Inspiration gibt’s zum Beispiel hier.
Ein Artikel von Ms. Ohm
Titelbild mit freundlicher Genehmigung von Ms. Ohm
Kommentar verfassen