Migrant*innen im Matsch

Während Außenminister Maas schon Dutzende Maschinen für seine „Operation Luftbrücke“ chartert, um mehr als 160.000 Deutsche von den Strandkörben der Kanaren und Mallorca zu holen, oder Landwirtschaftsministerin Klöckner 80.000 Saisonarbeiter*innen zum Wohle des Kulturgutes „deutscher Spargel“ einfliegen lässt, stagniert die Situation tausender Menschen andernortes. Ihre Zeit verrinnt nicht flüssig, sondern zäh, gefangen im Matsch von Moria. Die Geflüchteten im wohl berühmtesten Flüchtlingslager in der Ägäis laufen stets Gefahr, von höheren Mächten überspült zu werden.

In Bezug auf die klaustrophobische Enge und als Spielball politischer Interessen steht das Lager Moria seinem Namensvetter bei Tolkiens „Lord of the Rings“ in nichts nach. Die Geflüchteten schnitzen Olivenbäume an, um ihre zugigen Hütten zu bauen, Zelte stehen dicht an dicht. Einige wurden auf ausrangierten Gemüsekisten oder Pappkartons platziert. Ein sicheres Fundament zu schaffen? Zwecklos. Und überall dieser Matsch – welch bizarre, zynische Metapher! Auf unsicherem Boden, vom (Fest-)Land durch das sie umgebende Wasser der Ägäis getrennt. Stets rinnt die Sehnsucht nach festem Boden in die Lebenswelt der Menschen. Jedoch gibt es für die knapp 20.000 Menschen, die derzeit in dem für nur 3.000 Menschen konzipierten Lager leben, kein „Vor“ (Griechenland) und kein „Zurück“ (Türkei) – sie stecken fest. Immer wieder reiben sich Augenzeug*innen wie zuletzt der EU-Parlamentarier von den Grünen, Marquardt, die Augen und berichten vom Unglauben, dass es so etwas in Europa gebe.

Die Lage kippt

Was ist passiert? Die Türkei hat seit Beginn des Syrienkrieges 3,6 Millionen Menschen aus dem Nachbarland aufgenommen – exklusive Migrant*innen aus Pakistan, Afghanistan, Iran und afrikanischen Staaten. Durch die syrische Militäroffensive der letzten Monate werden Hunderttausende Syrer*innen aus der Region Idlib – so Erdogans Angst – über die geschlossene Grenze drängen. Kurzerhand werden Ende Februar die Grenzen zur EU für geöffnet erklärt.

Während sich die Menschen auf der richtigen Seite des Zauns eher um den eigenen Klopapiervorrat in Corona-Zeiten scheren, versuchen griechische Grenzbeamte und die Sicherheitsagentur Frontex mit aller Härte des Wasserwerfers tausenden Geflüchteten aus der Türkei zu begegnen. Mit Blendgranaten und Tränengas nehmen sie ihnen jegliche Perspektive, Europa zu erreichen, wohl auch mit illegalen sofortigen Rückführungen. Mitarbeiter*innen der Küstenwache schlagen mit Stangen auf Menschen in Schlauchbooten ein. Die Abgeordnete Lindholz (CSU) zeigt sich danach „sehr froh“ über die geschlossene Reaktion der EU – man müsse dort eben Ordnung schaffen.

Es ist kein Krieg, der da in der Ägäis gefochten wird, aber ein tagtäglicher Rechtsbruch auf europäischer, friedensnobelpreistragender Seite. Die, die es über die Grenze „schaffen“, werden in überfüllte Lager auf den Urlaubsinseln Lesbos, Samos, Kos, Leros, Chios überführt – ausgelegt für 7000 Menschen. 40.700 Migrant*innen drängen sich jetzt schon in den Zelten. Rund 1.500 von ihnen sind unbegleitete Minderjährige. Was der griechische Permierminister als „alles andere als ideal“ bezeichnet, ist eine katastrophale Situation: Es mangelt an Wasser, Toiletten, Seife. Und nun klopft auch noch das Virus an.

Corona als Vorwand

Zäune und Ausgangssperren sollen helfen, die minimale Bewegungsfreiheit in Moria weiter einzuschränken und 20.000 Menschen auf einem „Olivenbaumfeld einzuschließen“, wie es ein Migrant beschreibt. Ein einziger medizinischer Container wurde aufgestellt, um potenziell Covid-19-Patient*innen zu isolieren. Es fehlt auch an medizinischer Hilfe – mit Absicht?  Provisorische Obststände und Schulen im Lager müssen schließen. Eng an eng bleiben nur die Zelte stehen. Wie etwa in Moria das Mantra des Social Distancing mit Leben gefüllt werden soll, bereitet zumindest NGOs und Bewohner*innen Kopfzerbrechen. Human Rights Watch prangert das Vorgehen der Behörden als „ein Rezept dafür“ an, „das Virus zu verbreiten – abgesehen davon, dass es entwürdigend und unmenschlich ist“.

Nun, wenige Wochen nach den Zusammenstößen an der europäischen Außengrenze, ließ die griechische Seite verlauten, Asylanträge wieder bearbeiten zu wollen. Griechenlands Regierungschef Mitsotakis erwartet eine „völlige Rückkehr zur Normalität“. Dies ist jedoch nur in der Theorie möglich, da faktisch alle Behörden wegen Corona geschlossen sind, und muss wie Hohn in den Ohren der Gestrandeten klingen. Die Corona-Debatte wird zum Feigenblatt für politische Handlungsverweigerung. Grenzschließungen werden politisch wie pandemisch begründet, eine nachhaltige Lösung somit durch Corona infiziert und gelähmt. Und schon kündigt die türkische Seite an, insbesondere Afghan*innen und Iraker*innen in Post-Virus-Zeiten keine Steine in den Weg zu legen, wenn es sie wieder gen Westen zieht. Die Regierung in Ankara lässt schon am 14. April erneut 2.000 Migrant*innen an die Grenze fahren. Derweil werden auf griechischer Seite in juristischen Schnellverfahren illegal illegale Grenzübertritte geahndet und somit Menschen – ohne Rechtsbeistand – kriminalisiert, die das Recht auf einen Asylantrag haben. Und was macht die EU?

Das große Wegducken

Kommissionspräsidentin Von der Leyen applaudiert und dankt Griechenland, das europäische Schild zu sein, gegen – ja, gegen was denn? Erdoğan benutze Menschen „als Waffe“ gegen die EU, so Österreichs Kanzler Kurz. Schilde gegen Waffen, die doch meistens von Attentäter*innen, von Soldat*innen getragen werden, doch da steht eben nichts dergleichen vor den Zäunen der Ägäis: Da gibt es die minderjährige Iranerin, den homosexuellen Eritreer oder die irakische Christin. Die vielen Menschen, die sich verzweifelt einen Weg durch das Tränengas bahnen. Aber keine bedrohlichen, bis auf die Zähne bewaffneten Jihadist*innen.

Seltsame Kriegsmetaphern der obersten Repräsentantin eines Staatenbundes, der – das wird in Zeiten des Virus deutlicher denn je – u.a. durch Kleinstaaterei auf wankendem wirtschaftlichem Fundament steht. Was ist eine ‚Wertegemeinschaft‘ noch wert, an dessen Grenzen Tag für Tag „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“ in praktizierter Kriegsrhetorik über Bord geworfen werden? Die EU-Kommission, Hütern der EU-Verträge, und die EU-Mitgliedstaaten nehmen sehenden Auges ihre Nicht-Beachtung in Kauf.

An der südöstlichen Außengrenze der EU verfestigt sich ein Zustand, der die EU spalten kann. In der Migrationspolitik dominiert eine Arbeitsteilung mit bitterem Beigeschmack. Einigen Staaten – sieben an der Zahl – scheint das europäische Versprechen von Grund- und Menschenrechten noch ein Anliegen und sie bemühen sich, die größten Härten für Geflüchtete abzumildern. Die anderen scheinen nur noch ein einziges Ziel zu verfolgen: Die europäische Festung noch trutziger wirken zu lassen, bloß keine falschen Signale des Anreizes senden. Frontex-Chef Leggeri jubelt: Man habe seine Lektion von 2015 gelernt und sei mit 1.200 Grenzbeamten gut aufgestellt. Wer mag dem türkischen Autokraten in Ankara widersprechen, wenn er nun feixend kritisiert, dass die EU selbst die Menschenrechte mit Füßen tritt?

Puder und Rouge in der Migrationspolitik

Einige Kinder in Moria könnten nun das große Los ziehen, Asyl in der Bundesrepublik gewährt zu bekommen – der Zwergstaat Luxemburg hat mit 15 Kindern schon ‚vorgelegt‘. Zwar scheint Innenminister Seehofer nach zwei Jahren „verbalen Rabaukentums“ die humanitäre Seite seiner Migrationspolitik zu entdecken, doch seine Hilfsaktion erinnert an den Scheinriesen Herrn Tur Tur aus einem Kinderbuch von Michael Ende: Sie schrumpft unaufhörlich, wenn man sich ihr annähert. Seehofer sprach anfangs von 5.000 Kindern in verzweifelten Situationen, dann sollten 1.600 kommen oder zumindest 300 bis 500. Grünen-Chefin Baerbock erinnert, dass Deutschland 2016 die Aufnahme von 27.000 Schutzsuchenden aus Italien und Griechenland zugesagt hatte, von denen nur gut 10.000 aufgenommen wurden. Nun sind es vorerst 50, ganz frisch ist die Zahl 350. Es sind nun neben Deutschland und Luxemburg neun europäische Staaten, die insgesamt 1.600 Migrant*innen aufnehmen wollen (die EU-externe Schweiz, Belgien, Bulgarien, Frankreich, Kroatien, Finnland, Irland, Portugal und Litauen). Es ist zu wenig. Es ist kaum zu ertragen.

Der Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei wird seit März praktisch nicht mehr umgesetzt. Corona-bedingt nimmt die Türkei keine Migrant*innen mehr aus Griechenland auf. Die Bundesrepublik ist grundsätzlich bereit, mehr Geld in den Deal zu pumpen, um ihn noch etwas weiter am Leben zu halten. Human Rights Watch spricht von einem „anhaltenden Versagen Griechenlands, die Rechte von Asylbewerbern auf seinem Hoheitsgebiet zu schützen“. Doch es ist kein griechisches, es ist ein gesamteuropäisches, durch die Angst vor weiteren nationalen Rechtsrucken verursachtes Versagen.

Und während der Matsch auf den griechischen Inseln an diesen warmen Frühlingstagen langsam trocknet, gibt es andere Themen unter dem politisch-medialen Brennglas Europas. Zubrücke hoch, monothematischer Vollbild-Corona-Liveticker aufklappen, aus den Augen aus dem Sinn. Es kann so gemütlich sein.

— mehr über Handlungsoptionen an der europäischen Außengrenze erfährst du im 2.Teil des Artikels, der am 22.04.2020 hier erscheint —


Ein Artikel von Mark Schoder
Titelbild von ev auf Unsplash

Ein Kommentar zu „Migrant*innen im Matsch

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