Die Türkei treibt Migrant*innen in die Tränengas-Schwaden, die EU schaut nur selten hinter ihren Burgzinnen hervor: Der Türkei-EU-Deal scheint vorerst gescheitert. Die Gründe hierfür sind nicht primär in der Türkei zu finden, sondern auf den griechischen Inseln. Sehenden Auges stolpert auch die Bundesregierung in ein migrationspolitisches Dilemma. Wie kann man den Schutz der Außengrenzen und die Garantie von rechtsstaatlichen Verfahren als europäische Frage gemeinsam lösen?
Richtig ist wohl, dass die griechisch-türkische Grenze nicht schwuppsdiwupps geöffnet werden kann. Bilder von Tausenden von Migrant*innen, die die EU-Außengrenze überwinden, werden von Europas Rechtsnationalen geradezu herbeigesehnt – die müden Schlupflider Gaulands würden sich freudig spannen, er könnte die klamme Corona-Decke abstrampeln, unter der zu Krisenzeiten die Opposition zur Ruhe verdammt scheint.
Jeder Mensch hat jedoch das Recht, in der EU um Asyl zu bitten, ob er verfolgt wird, oder nicht. Auch bei der Afghanin, die seit sieben Jahren in Istanbul lebt, ist es völkerrechtlich geboten, ihr Aslybegehren Gehör zu verschaffen und dieses zu prüfen. Wer diese Rechtsgarantie aushebelt, gibt das identitätsstiftende Bekenntnis zu Grund- und Menschenrechten preis. Die Abwehr-Muster dagegen sind EU-grenzenübergreifend gleich: An der kroatischen Grenze werden Handys der Migrant*innen zerstört und es kommt zu gewaltsamen Pushbacks; in Italien dürfen NGO-Schiffe angeblich aus epidemologischen Gründen nicht mehr anlegen. Man erlebt eine Härte gegenüber Migrant*innen, die bislang nicht einmal Trump gegenüber Mexiko wagt. Die EU schweigt zu alledem. Riskiert sie damit ihre Selbstzerstörung?
Take back control
Wer das nicht will, muss den immensen Druck aus den griechischen Lagern nehmen, sofort. Es reicht nicht, ein paar Dutzend Kinder von Moria aufzunehmen. In Europas Südosten müssen wieder reguläre, faire Asylverfahren möglich werden. Erdogan wird auch weiterhin der EU einen Spiegel vorhalten und Migrant*innen als Machtinstrument benutzen. Hinzu kommt, dass das Corona-Virus in den Lagern kaum zu bremsen wäre. Um die Lagerbewohner*innen perspektivisch zu evakuieren, versuchen Hilfsorganisationen sogar schon ungenutzte Kreuzfahrtschiffe in die Ägäis zu lotsen. Maßnahmen wie diese können nur entzündungshemmend sein. Man möchte bei all der Not schon fast das irreführende Motto der Brexiteers zum Leitspruch erheben: Take back control.
Um zu verhindern, dass das Asylrecht 2020 in der Ägäis ertrinkt, schlägt der Erfinder des EU-Türkei-Deals, der Soziologe Gerald Knaus, drei Schritte vor: (1) Die EU müsse der Türkei zunächst bis 2025 noch einmal sechs Miliarden Euro für die Versorgung der Geflüchteten im Land (schon jetzt bilden sie vier Prozent der türkischen Gesamtbevölkerung) zuschieben. (2) Außerdem sei es unerlässlich, die Migrant*innen auf den griechischen Inseln auf das Festland zu evakuieren. (3) Die EU-Staaten müssten Athen zusichern, Geflüchtete abzunehmen. Ohne eine entsprechende Einigung zu brisanten Verteilungsthemen sieht es düster aus, auf dem alten Kontinent – nicht nur das Asylrecht würde dann ertrinken. Menschenleben und zivilisatorische Mindeststandards sind bedroht.
Schon an Schritt 2 scheint die EU gerade zu zerbrechen. Faktisch hat man die Menschen in einem rechtlosen Zustand festgesetzt: Sie werden inhaftiert und nicht zum Asylverfahren zugelassen. Die Türkei wird zum sicheren Drittstaat erklärt, und sie werden dorthin abgeschoben. Derweil konnte die EU nicht ihren Teil des Deals erfüllen, gerade einmal 70.000 Syrer*innen aus der Türkei aufzunehmen. Brüssel blieb ebenfalls tatenlos, als es darum ging, die sich abzeichnende Flüchtlingskatastrophe um Idlib in Abstimmung mit der Türkei vorzubeugen.
Kurzfristig muss es eigentlich eine Aufnahme von besonders notleidenden Lagerinsassen durch EU-Staaten geben. Corona-bedingte Reisebeschränkungen lassen dies jedoch nicht realistisch erscheinen – Vorwand hin oder her. Alternativ wären humanitäre Aufnahmemöglichkeiten innerhalb Griechenlands massiv zu finanzieren. Die Corona-Krise bietet jedenfalls keine Legitimation, die skandalösen Zustände auf Lesbos zu verdrängen. Keine Pandemie setzt Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention außer Kraft – also das Verbot, Menschen erniedrigend zu behandeln.
Und dann wandert das besorgt beobachtende Auge auch über Moria und die eurasische Grenze hinaus in Richtung des Nahen und Mittleren Osten, wo das Problem entstanden ist. Hier schlägt Trittin (B90Die Grüne) kurzfristig humanitäre Korridore für Idlib vor, wo es mindestens eine Million Menschen aus Angst vor der Bedrohung der Assad-Truppen an die geschlossene türkische Grenze drängt.
Wurzelbehandlung
Neben der „verbrecherischen Politik von Putin und Erdogan“ muss sich das Augenmerk auf die Überlastung Griechenlands und der Türkei richten. Deutschland muss hier Kontingente von Menschen in Not aufnehmen und sich für eine europäische Verantwortungsteilung einsetzen. Da würde nun sogar Innenminister Seehofer in großer Einmütigkeit mit verschiedenen NGOs zustimmend sein weißbehaartes Haupt nicken. Doch der berühmte Verteilungsmechanismus wird von Tschechien, Ungarn, Slowenien und Co. erfolgreich verwässert: Die neuen Vorschläge zur Asylreform, die die EU bald präsentieren wird, werden keine Zwangsquoten enthalten. Man spricht nun von einer „verbindlichen Solidarität“, die auch anders geleistet werden kann. Doch die einen Länder verweigern die Aufnahme von Geflüchteten, die anderen verweigern Auffanglager. Eine Verweigerungshaltung, die alle Schachmatt setzt.
Die EU könnte auch eine Rolle als Garantiemacht in Syrien anstreben, basierend auf Wiederaufbauprogrammen vor Ort. Jedoch ist die Angst groß, in diesem hochkomplexen syrischen Gemisch aus verschiedenen Parteien und Einzelinteressen unter die Räder zu kommen. Schon der Aufbau und Unterhalt von Siedlungen in Nordsyrien innerhalb international überwachter Sicherheitszonen ist eine Herkulesaufgabe, würde jedoch die Türkei als Nachbar- und Zufluchtsland entlasten.
Empathie für die, auf der falschen Seite des Stacheldrahts
In Moria teilen sich 1.300 Schutzsuchende einen Wasserhahn. Der UNHCR (Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge) zählt weltweit mehr als 70 Millionen Menschen auf der Flucht. 37.000 Menschen fliehen täglich vor Konflikten und Verfolgung. Zahlen. Sie dominieren den Diskurs, lassen uns aber von Zeit zu Zeit immer unberührter im Fernsehsessel sitzen. Und dann erscheint das Bild eines ertrunkenen Flüchtlingskindes mit dem Gesicht im griechischen Sandstrand und schwupps: Emotionale Fragen zur Biografie tauchen auf. Woher kam der Junge? Was hat er erlebt? Was ist mit seiner Familie? Was kann ich tun, dass dies nicht noch einmal passiert?
Verstreichende Zeit, aber vor allem Abstraktion sind passable Gegenmittel gegen zu viele dieser drückenden Fragen. Man muss dafür nicht einmal einer rechtsradikalen Partei nahestehen: Politiker wie Manfred Weber (CDU), der Migrant*innen in der Ägäis ihre Individualität abspricht, Holger Stahlknecht (CDU), der Deutschland schon bei 500 neuen Migrant*innen überfordert sieht, oder Thorsten Frey (CDU), der zusätzliche Kontingente für Flüchtlinge aus der Türkei für „das völlig falsche Signal“ hält, wird es wohl immer geben. Sie bringen uns nicht weiter, mit ihrer empathie- und hoffnungsbefreiten, aber eben auch fortschrittsbremsenden Argumentation. Für humanitäre Aktionen in der Ägäis sei nicht die richtige Zeit, so Frey. Aber wann denn dann? Auch durch diese Passivität, durch aktive rechtsnationale Rhetorik oder Rechtsradikalen, die auf Lesbos Hilfsorganisationen angreifen, wird Solidarität stigmatisiert.
Nur die Hoffnung auf gemeinschaftlich-solidarisches Handeln in Brüssel, Strasbourg, Berlin oder Prag, füllt doch Entscheidungsträger*innen mit frischen Ideen und Tatendrang, humane Lösungen zu finden. Hoffnung durchdringt all unsere Entscheidungen und gibt uns einen Kompass in die Hand. Wenn sich dazu noch die Empathie durch das Wissen über migrantische Lebenswelten gesellt, finden wir vielleicht rasche und nachhaltige Lösungen. Gerade in diesen Corona-Zeiten merkt man doch, wie schnell etwas möglich ist, wenn der breite politische Wille da ist.
Ein Artikel von Mark Schoder
Titelbild von Markus Spiske auf Unsplash