Die Katastrophe von Tschernobyl: Was damals war und heute bleibt

Waldbrände in der Ukraine. Auch rund um den Ort Tschernobyl [1]. Wegen der aktuellen SARS-CoV 2-Pandemie rücken Nachrichten wie diese in den Hintergrund und doch ist die Bedrohung real. Das Feuer kann dazu führen, dass erneut Radioaktivität in Form von Cäsium und Strontium-Partikeln frei wird, die sich im kontaminierten Gebiet befinden, aufgewirbelt wird und sich verteilt. Kiew ist nur 100 km entfernt.

Der Beton-Sarkophag [2] über der Atomruine in Rauch gehüllt. Ein beunruhigendes Bild. Auch wenn Brände in der Sperrzone rund um den zerstörten Atommeiler Tschernobyl keine Seltenheit seien, nähmen diese Jahr für Jahr an Intensität zu, wie in einer Stellungnahme des NASA-Earth-Observatorys zu lesen ist. Besonders brenzlig: Inzwischen leben wieder Menschen in dieser „Todeszone“, sie kamen heimlich zurück in die frühere Heimat. Sie sind illegal, aber werden stillschweigend geduldet.

In Tschernobyl ist es still. Still, wie im Himmel, äußert sich die hier lebende Babuschka Galina. Sie hat keine Angst vor der Strahlung, ist 90 Jahre alt und nicht krank geworden. Sie wollte ihre Tiere nicht allein lassen, kam daher zurück. Ihr Sohn Leonid lebt bei ihr, seitdem ihr Mann vor drei Jahren starb. Sie braucht vor allem Hilfe beim Einkaufen und bei körperlich anstrengender Arbeit. Die Gegend scheint völlig verlassen. Doch auch das stimmt nicht ganz. Eulen, Elche, Bisons und sogar Braunbären erobern sich das Gebiet Stück für Stück zurück, bauen ihre Nester in den Dachstühlen der langsam verfallenden Häuser. Für die Artenvielfalt eine positive Nachricht.

Galinas Einstellung zur Erzeugung der atomaren Energie ist deutlich: „Früher haben die Menschen einfach das Land gepflügt und Essen gehabt. Jetzt, wo wir diese atomaren Dinger haben, sollen wir wohl Atome essen.“ Sie wird hier sterben. Und ist froh darüber, den Vorschriften getrotzt zu haben und heimgekehrt zu sein. Galina zeigt Bilder von früher, als in Tschernobyl das Leben getobt habe, als man draußen Lachen von jungen Menschen hörte. Als es in einem Atomkraftwerk zur Katastrophe kam. Zum größten anzunehmenden Unfall, beinahe sogar zur Kernschmelze. Als Ingenieur*innen und Soldat*innen ihr Leben ließen, um andere zu retten. Die Liquidator*innen [3] sollten nicht länger als 45 Sekunden am Stück direkt am Reaktor arbeiten, da dies jedoch kaum umsetzbar war, weil in dieser kurzen Zeit nur sehr wenig gemacht werden kann, hielten sie sich häufig nicht an die vorgegebenen Zeitintervalle. Wer nicht an der Strahlenkrankheit hinsiechte, lebte von nun an mit der Angst vor Spätfolgen, wie Krebs.

Ein GAU wie dieser ist jedoch in jedem einzelnen Atomkraftwerk dieser Welt möglich, irrelevant, ob stillgelegt oder nicht.

Seit der Serie „Tschernobyl“ ist dieses historische Ereignis wieder ins globale Gedächtnis der (vordergründig westlichen) Gesellschaft zurückgekehrt. Die Serie ist exakt, der Inhalt schockiert zurecht. Ein Vorwurf, den man der Produktion machen könnte, wäre lediglich, dass sie die Reaktorexplosion auf das Fehlverhalten der Sowjetunion schiebt. Ein GAU wie dieser ist jedoch in jedem einzelnen Atomkraftwerk dieser Welt möglich, irrelevant, ob stillgelegt oder nicht. Die darin stattfindende Kernspaltung -einmal begonnen- lässt sich nicht ad hoc stoppen. Zusätzlich strahlt der Müll weiter.

Der schicksalhafte Reaktor mit der Nummer 4 war ein sogenannter RBMK. Die Versalien stehen für Reaktor Bolschoi Moschtschnosti Kanalny, zu Deutsch „Hochleistungsreaktor mit Kanälen“, welcher auch heute noch in Ländern der ehemaligen Sowjetunion in Betrieb ist. Der GAU lässt sich auf einen Fehler des Modells zurückführen. Um Explosionen wie in Tschernobyl zu verhindern, wurden nach dem Unglück Veränderungen an den sowjetischen Kernkraftwerken, in denen RBMKs verbaut wurden, vorgenommen.

Der Baufehler dieses Reaktortyps war an den Brennstäben vorzufinden, die einfach gesagt schlichtweg nicht schnell genug eingefahren werden konnten, um eine bedrohliche erhöhte Reaktorleistung, die eine Explosion zur Folge haben kann, zu unterbinden. Der Grund für die Katastrophe in Tschernobyl war also nicht ausschließlich menschliches Versagen der arbeitenden Ingenieur*innen, wie heute immer noch oft angenommen wird. Der Reaktortyp selbst mit den langsam einfahrenden Brennstäben war das grundlegende Problem.

Es braucht Arbeitende, die den Sarkophag und die Reaktorruine warten. Vor Ort existieren daher auch wieder Cafés, Restaurants, Läden für das tägliche Leben. Die Behausungen der sogenannten Zonenarbeiter dürfen wochenweise bewohnt werden. Man pendelt alle sieben Tage zwischen Wohnort und Tschernobyl, um gesundheitliche Langzeitschäden zu verhindern. Der Umgang mit der veralteten Technik ist Routine, die ständig drohende Gefahr Teil des Arbeitsalltags.

Der Diplom-Chemiker Serhij Myrnyj widmet sich im Sperrgebiet einer anderen Form des Erwerbs. Nach dem Unfall am 26. April 1986 war er als einer der Liquidator*innen tätig und für die Dekontamination des Gebiets verantwortlich, heute ist er der größte Anbieter für Reisen nach Tschernobyl. So will er den schlechten Ruf der Region verbessern und die Wirtschaft durch den Tourismus ankurbeln. Myrnyj verkündet, er wolle nun auch das Image von Tschernobyl dekontaminieren.

Bestimmte Orte in Tschernobyl sind so verstrahlt, dass man sie wirklich nicht betreten sollte.

Die Reisegruppen werden direkt nach der Ankunft im Sperrgebiet im Umgang mit dem Geigerzähler geschult. Eine wichtige Übung. Die Geigerzähler sind sehr laut. Durchgehend. Bestimmte Orte in Tschernobyl sind so verstrahlt, dass man sie wirklich nicht betreten sollte. So ist es den Tourist*innen möglich weitestgehend gefahrlos das Gelände zu besichtigen, gleichzeitig schult die Technik auch das Bewusstsein für die unsichtbare Bedrohung.

Das scheinen aber nicht alle zu verstehen, „Ich habe meinen Geigerzähler jetzt extra im Bus gelassen, damit ich vom ständigen Piepsen nicht verunsichert werde.“, so ein Schweizer Tourist mit Spiegelreflexkamera, „Ich habe meine schönen Fotos geschossen und ein tolles Erlebnis gehabt.“ Ein Bewohner der Zone ist nicht sonderlich glücklich über die vielen Fremden. Er berichtet, dass es sehr rücksichtslose Tourist*innengruppen gebe, die Vandalismus betreiben, Scheiben einschlagen.

Mit dem Bus wird jede Reisegruppe an die verschiedenen Orte rund um den zerstörten Reaktor 4 gebracht. In die Arbeiterstadt Prypjat [4], zum berühmten Rummelplatz, der nie eröffnet wurde, sogar ein Selfie vor dem Sarkophag ist Teil der Tour. Im Dorf Kupovate werden sie von der Bewohnerin Baba Hanya mit Pfannkuchen und Schmand empfangen. Im Gegenzug geben die Reisenden Geld und Lebensmittel, die man im Dorf nur schwer bekommt. Die Gastgeschenke der Besucher*innen sind lebenswichtig für sie. Ein Auto, das Produkte aus dem Supermarkt verkauft, kommt nur einmal im Monat vorbei.

Das eigentliche Highlight für jede Reisegruppe ist sicher der Aufenthalt nur wenige hundert Meter vom Sarkophag entfernt. Die Tourist*innen machen Fotos von sich vor dem Einschlussgebäude, das die Strahlung abschirmt. Am Ende der Abenteuertour gibt es T-Shirts mit Beschriftung zu kaufen, die im Dunkeln leuchten: „I´ve been to Chernobyl“. Außerdem kann man leckeres Tschernobyl-Eis essen oder sich von vielen anderen Souvenirs mit dem Strahlenwarnzeichen begeistern lassen. Jede Person erhält eine Urkunde, die sie als echten Zonenbesucher ausweist. Zusätzlich wird die nach der Tour gemessene Strahlenbelastung als eine Art Abschlussnote eingetragen. In diesem Fall 0,002 mSv.

Serhij Myrnyj liebt Tschernobyl. Die unberührte Natur und das klare Wasser sind das Ergebnis der Abwesenheit von Menschen. Myrnyj bewundert den Fluss: „Es ist einfach eine wunderschöne Gegend.“

Ein Artikel von Margarete Rosenbohm
Titelbild von Yves Alarie auf Unsplash

Fußnoten

[1] Tschernobyl: Die Stadt Tschernobyl ist eine Nachbarstadt von Prypjat und Namensgeber des Atomkraftwerkes Tschernobyl, heute halten sich dort wochenweise die Wartungsarbeiter*innen auf, die auch Zonenarbeiter*innen genannt werden. Das Gebiet liegt außerhalb des heutigen Sperrgebiets.

[2] Sarkophag: Ein Einschlussgebäude, umgangssprachlich Sarkophag genannt, schirmt die Reaktorruine von der Außenwelt ab. Ein neuer wurde 2017 fertig gestellt und soll 100 Jahre halten.

[3] Liquidator*innenen: meist sowjetische Soldat*innen, die das Gelände dekontaminierten und den ersten Sarkophag bauten. In der Ukraine kann man heute eine Liquidator*innenrente beantragen und muss dann nicht mehr arbeiten. Unter den Liquidator*innen ist die Zahl der Krebserkrankten erhöht.

[4] Prypjat: In Prypjat lebten die Arbeiter*innen des Kernkraftwerks Tschernobyl mit ihren Angehörigen. Der Ort hatte knapp 50.000 Einwohner*innen, unter ihnen über 15.000 Kinder. Durch Organisationsschwierigkeiten erfolgte die Evakuierung der Stadt erst 36 Stunden nach dem Reaktorunglück am Mittag des 27.4. Viele Bewohner*innen der Stadt erlitten durch die hohe 1,5 tägige Strahlenbelastung Spätfolgen. Bei der Evakuierung wurde den Menschen gesagt, sie könnten in drei Tagen wieder zurückkehren, um Panik zu vermeiden. Heute ist Prypjat das Zentrum des Sperrgebiets um den Unfallreaktor.

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