„10 Dinge, die weiße Menschen besser machen können“ kursieren derzeit in Social-Media-Kanälen umher und erteilen dringend notwendige Ratschläge, was jede*r Einzelne von uns gegen Alltagsrassismus tun kann. Was auf allen Listen fehlt: Eine besondere Achtsamkeit im Umgang mit Kindern in Form von antirassistischer Erziehung.
Antirassistische Erziehung, ist in einer strukturell rassistischen Gesellschaft nämlich gar nicht so leicht. Die Annahme es würde ausreichen, mit dem Kind am Esstisch zu reden, unterschätzt gravierend die äußeren Einflüsse, denen kleine Kinder ausgesetzt sind. Sei es im Shopping-Center, in Kinderbüchern, in Werbung und Film oder die Geburtstagsgeschenke von Oma & Opa – die Welt, die Kinder ganz unabhängig vom Elternhaus kennenlernen, ist weiß, fair und schön.
Erlernter Rassismus und Sexismus
„Du bist hässlich, du spielst nicht mit“ sagte Paula ruhig und unverfroren als sie eine ihrer Barbiepuppen bei Seite legte. Die Barbie aufgrund ihres Aussehens auszuschließen war nicht nur frauenfeindlich, sondern auch eine Reproduktion westlicher Schönheitsideale. Denn die Barbie, um die es ging, war eine Woman of Color. Ich hatte sie ihr zu ihrem dritten Geburtstag geschenkt – halb zähneknirschend, da sie sich durch Freundinnen in diese schönheitsfanatischen Frauenabbilder verliebt hatte und halb hoffnungsvoll, da ich ihre kleine Sammlung an weißen Blondinen nun um eine BPoC-Barbie erweitert hatte. Mittlerweile ist sie fünf und die Barbie sieht noch aus, wie an ihrem ersten Tag – es wurde nie mit ihr gespielt. Vehement schritt ich also ein, dass auch diese Barbie mitspielen und den Frisiersalon betreten dürfe. Schließlich gehöre sie doch auch dazu. Nach kurzem Überlegen gab Paula nach. „Hmm okay, die Friseurin macht ihre Haare glatt und dann ist sie hübsch“ – besser macht es das ganz und gar nicht.
Kleine Kinder machen ganz unverblümt und schuldlos nach, was ihnen vorgelebt wird. Sie sprechen erlernte Denkmuster ungefiltert aus und offenbaren dadurch strukturelle Problemfelder unserer Gesellschaft. Davon gibt es genug, im Kinderalltag besonders präsent sind wohl Diskriminierungsarten in Form von Rassismus und Sexismus.
Dazu braucht es wie in Paulas Fall kein rechtes Elternhaus mit Björn-Höcke-Fotos an der Wand. Die Welt, die in Kinderfilmen dargestellt, in Büchern skizziert und in Shoppingcentern erkauft wird, reicht vollkommen aus, um kleinen Mädchen das Schönsein als oberste Priorität zu vermitteln und dieses Schönsein in einem zweiten Schritt als weiß im westlichen Sinne zu definieren.
Die uns nachfolgende Generation, die mit wachsamem, wissbegierigem Blick unsere Welt aufnimmt, wird ähnlich rassistisch und sexistisch denken, wie wir es selbst alle tun. Das beginnt in der Weitergabe westlicher Schönheitsideale, steigert sich bei Kompetenzzuschreibungen während eines Bewerbungsgesprächs und endet in Todesfällen durch Polizeigewalt.
Die frühkindliche Prägung
Paula hat eine ältere Schwester. Helene ist mittlerweile zehn Jahre alt und war früher einmal genauso in eine pinke Barbie-Glitzerwelt verliebt, wie es nun Paula ist. Den Satz „Du bist hässlich, du spielst nicht mit“ hat sie so ähnlich zu ihrer Beyonce-Fanbarbie gesagt. In ihrem jetzigen Alter ist sie anders. Zu Weihnachten hat sie ein Greta-Thunberg-Buch geschenkt bekommen und glaubt nun fest daran, dass junge Frauen die Welt verändern können. Mittlerweile gehen wir zusammen auf Demonstrationen, wir pflegen gemeinsam Stolpersteine und reflektieren über ihren Religionsunterricht. Zu ihrem zehnten Geburtstag hat sie ein Handy bekommen, wo sie ab und an auf das News-Widget geht. Kurz nach dem Tod von George Floyd kam sie bedrückt auf mich zu. Die Bilder von Kindern in ihrem Alter auf den Black-Lives-Matter-Demonstrationen animierten sie sehr.
Sicherlich können unsere Kinder in höherem Alter lernen, dass bestimmte Dinge andere Menschen verletzen und deshalb nicht gesagt werden sollten. Sie werden auch lernen zu reflektieren und ihre eigenen Gedanken einer strengen Revision unterziehen. Jede Erziehung vermittelt Werte, vor allem wenn sie in einem aktiven, bewussten Austausch stattfindet. Im besten Fall werden sich unsere Kinder also wie wir als Feminist*innen und Antirassist*innen bezeichnen. Und dennoch werden sie gegen dieselben eigenen sexistischen und rassistischen Denkmuster ankämpfen, die sie in einem Alter von 0-6 wahrgenommen haben.
Die frühkindliche Forschung, angefangen bei den grundlegenden Werken von John Bowlby, René Spitz, Erik und Joan Erikson bis hin zu neueren Studien wie z.B. die „Logik – Longitudinalstudie zur Genese individueller Kompetenzen“ des Max-Plack-Instituts und der Universität Würzburg belegen, dass die Lebensjahre vor der Schulzeit für die Entwicklung des Menschen am Prägendsten sind. Kinder verfügen vom Säuglingsalter an über vielfältige Wissensverarbeitungsmechanismen. Quelle ihrer Wissensaufnahme ist dabei weniger die aktive Wissensvermittlung, die erst später in der Schulzeit eine Rolle spielen wird. Kleinkinder ziehen ihr Wissen sehr neugierig und schnell aus der Beobachtung ihrer Umwelt. Auch werden dadurch erlernte Denkmuster sehr tiefgreifend verinnerlicht und sind später nicht in ihrer Gänze zu revidieren. Geht es um frühkindliche Bildung, wird dieser Umstand häufig als ausbaufähiges Potential gesehen. Geht es um vermittelte rassistische und sexistische Strukturen in unserer Gesellschaft, haben wir ein ganz gewaltiges Problem: Die Endlosschleife des strukturellen Rassismus überlebt Generation für Generation.
Der Weg aus der Endlosschleife
Aktuell geht es darum, dass alle Teile der Gesellschaft Rassismus und Sexismus erkennen und für sich ablehnen. Für diese Art Aufklärungsarbeit bedarf es der Massenbewegung, die wir derzeit wahrnehmen und der Sichtbarkeit betroffener Personen. Auf lange Sicht kann es hingegen nicht das Ziel unserer Gesellschaft sein, Formen der Diskriminierung erst zu vermitteln und dann darauf zu hoffen, dass sie von allen Individuen einzeln überholt werden. Ziel muss es sein, sie gar nicht erst in den Köpfen unbeschriebener Säuglinge einzupflanzen! Nicht Sexismus und Rassismus, sondern Feminismus und Antirassismus müssen die Wahrnehmung von Kleinkindern bestimmen. Nur so haben wir eine Chance auf eine Gesellschaft, an der tatsächlich alle Individuen gleichberechtigt teilhaben können.
Das einzige Gegenmittel ist auch hier eine Massenbewegung. Und leider viel Zeit. Auch Paula und Helene werden sich ihre Schönheitsideale, Charakterzuschreibungen und Vorbehalte eingestehen und überkommen müssen – ihre Generation zählt noch zu denjenigen, bei denen im Kleinkindalter Sexismus und Rassismus erlernt worden ist. Das Potential, das zu verändern haben wir jetzt mit einer protestierenden Jugendgeneration, die in einigen Jahren die neue Elterngeneration sein wird. Wenn es darum geht, was weiße Menschen nun besser machen können, muss auch das Bewusstsein für antirassistische Erziehung in der breiten Masse gestärkt werden. Es reicht nicht, dass bei Paula eine BPoC-Barbie im Regal sitzt, sie abends „Latte, das mutige Igelmädchen“ vorgelesen bekommt, eine Schwarze Kindergartenfreundin hat oder zum 100. Mal Disneys „Küss den Frosch“ sieht. All das kommt gegen den subtilen Alltagsrassismus und -sexismus, den sie in dem Klamottenladen mit der pinken und blauen Abteilung, beim Malen im Kindergarten mit dem „hautfarbenen“ Stift, in der Fernsehbabyborn-Werbung mit weißen Mädchen und ihren weißen Babys oder an anderen unkontrollierbaren Ecken aufgeschnappt hat, kaum an. In der Verantwortung sind also wechselwirkend Eltern, andere Bezugspersonen, Wirtschaftsunternehmen – kurz gesagt alle Akteur*innen, die den Alltag von Kindern prägen.
Es geht um Angebot und Nachfrage in der Spielzeugabteilung; um Verlage, die die Vielfalt in Kinderbüchern fördern; um Spielzeit mit den Eltern, in der die BIPoC-Puppen bewusst eingebunden werden; um den Kinobesuch der Neuverfilmung von Arielle mit Halle Bailey verbunden mit der Forderung nach mehr Women of Color in den Hauptrollen; um die deutsche Kolonialzeit im Geschichtsunterricht; um den Austausch mit Eltern der Kindesfreund*innen über vermittelte Werte und die Spielzeugwahl; um aktives Einschreiten bei Sätzen wie „Du bist hässlich, du spielst nicht mit“.
Antirassistische und feministische Erziehung erschöpft sich nicht in ein wenig mehr Diversität in den Kinderzimmern. Es geht um die reflektierte Dekonstruktion von vertrauten Strukturen und fängt bei der aktiven Arbeit von uns (zukünftigen) Eltern an. Und um den Einstieg in diesen unbequemen Auftrag zu erleichtern, hier ein paar alte und neue antirassistische und/oder feministische Empfehlungen:
Filme:
„Latte Igel und der magische Wasserstein“ Buchverfilmung (Doppelempfehlung) über ein mutiges Igelmädchen, das sein Dorf rettet.
Disneys „Vaiana“, „Küss den Frosch“, „Mulan“, „Merida – Legende der Highlands“ und „Die Eiskönigin“ mit starken, unabhängigen Frauen, einer Prise Mainstream-Feminismus und jedenfalls in den ersten drei Filmen PoC-Hauptfiguren.
„Ronja, Räubertochter“ (Film- und Buchempfehlung) – erklärt sich von selbst, oder?
„Die Salzprinzessin“ mit dem ersten Schwarzen Prinzen in einem ARD-Märchen auf Grundlage eines Grimm-Motivs.
Bücher:
Die Elmar-Reihe (insbesondere der erste Teil) über einen bunten Elefanten, der lieber grau sein will
„Julian, die kleine Meerjungfrau“ mit dem Mut Träume wahr werden zu lassen.
„Nelly und die Berlinchen“ (Die Schatzsuche und Rettung auf dem Spielplatz) über eine Freundesgruppe, die zwischen Hautfarben keinen Unterschied macht.
„Ich bin anders als du, ich bin wie du“ über Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
„Die drei Räuberinnen“ bilden gemeinsam eine unheimlich liebenswerte und höchst gefährliche Bande, die in einem Wald auf Raubfeldzüge gehen.
„Zusammen!“ nach dem Motto „Ganz egal, wie viel uns unterscheidet, es ist viel mehr, was uns verbindet“.
„Klar bin ich von hier – was ein Schwarzer Junge in Deutschland erlebt“ für 8-12-Jährige.
Die „Little People – Big Dreams“-Reihe zu Rosa Parks, Frida Kahlo, Anne Frank, Marie Curie, Dr. Martin Luther King und vielen Weiteren.
„Das Buch vom Antirassismus“ Was ist Rassismus? Und was kann ich dagegen tun?
„Der kleine Prinz“ als Klassiker für die Grundlagen der Menschlichkeit.
Eine Übersicht englischsprachiger Kinderbücher findet ihr auf dem Instagram-Account von itsecogal
Spielzeug von Black Owned Businesses:
Kido Chicago – auch für weitere Buchempfehlungen interessant.
The Black Toy Store als Sammelstelle für viele Schwarze Hersteller*innen.
Healthy Roots Dolls für „curl power“ und Diversität im Spielzeugregal.
Harper Iman Dolls, selbstgemachte Puppen, die gerne auch mal ausverkauft sind.
Ein Artikel von Frederike Hirt
Titelbild von Pexels auf Pixabay

Frederike wohnt mit ihren beiden Schwestern (5 und 10 Jahre alt) in Hannover. Da die beiden sie immer mächtig um den Finger wickeln, spielt sie häufig Schleich, Playmobil & Co – auf politisch korrekte Weise, versteht sich.
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