Diskriminierung ist keine Befindlichkeit, sondern ein strukturelles Problem

Anmerkung der .divers Redaktion
Das .divers-Magazin ist in Hildesheim gegründet worden. Ein Großteil unserer Redaktion studiert oder hat an der Universität Hildesheim studiert. Viele unser Autor*innen sind Studierende aus Hildesheim. Wir wollen diese Institution als einen Raum verstehen, den wir mitgestalten können und in dem Kritik hörbar ist und nicht missachtet wird. Deswegen solidarisiert sich die .divers-Redaktion mit der BIPOC-Hochschulgruppe. Ihre hochschulpolitische Arbeit und ihr Engagement sollte wertgeschätzt werden und auf Kritik, Ideen und Forderungen sollten entsprechende strukturelle Veränderungen folgen.
Wir wollen auch andere Initiativen mit der Veröffentlichung dazu aufrufen, diesen offenen Brief zu unterschreiben und sich mit der BIPOC-Hochschulgruppe zu solidarisieren.


Offener Brief zu den Äußerungen des Präsidenten der Universität Hildesheim, Wolfgang-Uwe Friedrich bei der Verleihung des Preises für studentische Initiativen auf dem Campusfest am 5. Juni 2019

Am 5. Juni 2019 wurde auf dem Campusfest der Preis für studentische Initiativen durch das Präsidium der Universität verliehen. In den Vergaberichtlinien heißt es: »Mit dem Preis sollen besonders innovative Initiativen sichtbar gemacht und dazu ermutigt werden, diese weiter zu entwickeln. Der Preis wird jährlich vergeben, ist mit 3.000 Euro dotiert und kann geteilt werden.«1 Die Auswahlkommission des Preises ist sowohl mit dem Universitätspräsidenten als auch mit Studierendenvertreter*innen besetzt.
In diesem Jahr wurden das HoKi, hi*queer und die BIPOC-Hochschulgruppe ausgezeichnet. Wir freuen uns mit den drei Initiativen! Im Verlauf der Preisverleihung kam es allerdings seitens des Präsidenten zu einem Verhalten, das symptomatisch für strukturellen Rassismus an der Universität ist und das wir mit diesem Brief deutlich kritisieren.

Hierzu ein kurzer Abriss des betreffenden Geschehens:

Nach der Gratulation an die ausgezeichneten Initiativen richtete der Präsident direkte Worte an die beiden Vertreter*innen der BIPOC-Hochschulgruppe. Er betonte, dass es seiner Meinung nach nicht die beste Strategie sei, sich an weißen Männern abzuarbeiten, da diese Wortwahl ebenfalls diskriminierend sei.2 Im Anschluss an seine Rede wurde im Publikum teilweise geklatscht. Der Präsident bezog sich mit seiner Äußerung direkt auf das Bewerbungsschreiben der BIPOC-Hochschulgruppe, in der die Bezeichnung – weiß – verwendet wird. Sie dient dort der analytischen Bezeichnung einer privilegierten Position in einem rassistischen System und ist als solche nachvollziehbar erläutert.3 Der Begriff soll strukturelle Kritik ermöglichen und muss dazu notwendigerweise relevante Merkmale treffen – das kann bei den bezeichneten Personen ein Unwohlsein hervorrufen, ist jedoch keine Diskriminierung. Denn Diskriminierung ist keine Befindlichkeit, sondern ein strukturelles und institutionelles Problem. Noch während der Präsident von der Bühne abging, kamen Vertreter*innen des Auswahlkomitees (AStA und StuPa) zu den Preisträger*innen und erklärten an das Publikum gerichtet, dass sie sich den Ausführungen des Präsidenten nicht anschließe, sondern die Position der BIPOC-Hochschulgruppe unterstützen. Herr Friedrich reagierte darauf lediglich mit einer abwinkenden Geste.
Wir als Verbund verschiedener Initiativen sind irritiert, bestürzt und enttäuscht darüber, wie die Arbeit der BIPOC-Hochschulgruppe Hildesheim durch den Präsidenten der Universität auf unprofessionelle, unreflektierte und rassistische Weise entwertet wurde. Der Vorfall illustriert, wie wichtig, akut und gesellschaftspolitisch zentral die Anliegen und insbesondere die rassismuskritische Arbeit der Gruppe sind.
Die BIPOC-Hochschulgruppe ist ein Schutzraum für Black, Indigenous und People of Color, die an der Universität Hildesheim und der HAWK studieren. Sie gründete sich, weil an einer Universität, an der rassistische Fremdbezeichnungen unreflektiert und mehrheitlich unwidersprochen in universitären Veranstaltungen verwendet und BIPOC nicht mitgedacht werden, und wo die Studierendenschaft, Lehrenden, Hochschulleitung und Verwaltung mehrheitlich weiß sind, nicht genug sichere Räume für BIPOC existieren, in denen ihre Rassismuserfahrungen nicht in Frage gestellt werden.4 Die pro-aktive Arbeit, diese Räume (safer spaces) zu schaffen, fällt auf betroffene Studierende zurück.
Im Leitbild der Universität Hildesheim ist zwar das Anliegen verankert, »die Gleichstellung von Frauen und Männern sowie von Menschen unterschiedlicher sozialer, ethnischer und religiöser Herkunft«5 zu gewährleisten, jedoch sind das leere Worte und Schaufensterpolitik, solange Weißsein nicht reflektiert wird und Diskriminierungsformen wie Rassismus und Sexismus nicht kritisch hinterfragt werden, sondern stattdessen die Auseinandersetzung damit kritisiert und diskreditiert wird.6 Die Kulturwissenschaftlerin Sara Ahmed schreibt dazu: “When we describe institutions as being white, we point to how institutional spaces are shaped by the proximity of some bodies and not others: white bodies gather and create the impression of coherence.”7 Die Universität sollte ein Raum sein, an dem das Hinterfragen von diskriminierenden Strukturen möglich und Kritik ein Anlass zur Selbstreflexion ist. Dafür ist insbesondere ein Sprechen über die vom Universitätspräsidenten beanstandeten Kategorien notwendig. Die Publizistin Carolin Emcke schreibt dazu: »Wer sich wehrt gegen Ungleichbehandlung oder Ausgrenzung, muss notgedrungen oft in Kategorien argumentieren, die selbst erst durch die Ausgrenzung entstanden sind. […] Um eine konkrete Diskriminierung zu belegen, braucht es eine dichte Beschreibung der Art und Weise, in der benachteiligt wird – und da kommen dann Hinsichten wie Körpergröße oder Hautfarbe ins Spiel.«8 Der vom Präsidenten vorgebrachte Vorwurf des »umgedrehten Rassismus« (reverse racism)9 gehört zu den häufigsten und gleichzeitig am besten widerlegten Argumenten rechtspopulistischer und reaktionärer Kräfte in der gegenwärtigen Rassismusdebatte.10
Die Äußerungen des Präsidenten und die zustimmende Reaktionen einiger Studierender zeigen, dass, im Widerspruch zum Leitbild der Universität, Diskriminierung und diskriminierende Strukturen nicht hinterfragt, vielmehr von oberster Stelle gefördert werden. Wir kritisieren sowohl die Äußerungen des Präsidenten auf dem Campusfest, mit denen die Arbeit der BIPOC-Gruppe öffentlich infrage gestellt wird, als auch die Reaktion der anwesenden Studierenden. Sie sind nur ein Beispiel für eine Vielzahl von rassistischen und diskriminierenden Handlungen, die an der Universität Hildesheim bewusst oder unbewusst, durch Vorsatz, Ignoranz und Unwissen oder unterlassenen Widerspruch regelmäßig begangen werden.

Wir stellen daher folgende Forderungen:

  • Zur Umsetzung des Leitbildes muss die Universität rassismuskritische Fortbildungsarbeit für Lehrende und Mitarbeitende verpflichtend in der Hochschuldidaktik verankern.
  • Ebenso braucht es Sensibilisierungsworkshops zum Thema Rassismus und koloniale Kontinuitäten für Studierende.
  • Zusätzlich sollte sich der Senat der Universität zu den Äußerungen des Präsidenten positionieren. Wofür will die Hochschule stehen? In selbstverwalteten und demokratisch organisierten Strukturen sollten auch andere Lehrende, Mitarbeiter*innen sowie weitere Studierendengruppen (Fachschaften etc.) eigene Positionen beziehen.
  • Eine Beschwerdestelle, die auf Ebene der Studierenden, des Lehrpersonals als auch auf Verwaltungsebene unabhängig agieren kann, muss dauerhaft und langfistig erhalten werden. Ebenso muss regelmäßig und vermehrt auf die ehrenamtlichen Beschwerdestellen der einzelnen Fachbereiche der Universität hingewiesen werden. Zusätzlich muss für den dauerhaften Erhalt dieser gesorgt werden.
  • Die Unterstützung und Förderung von Safer Spaces und Empowerment-Programmen für BIPOC, nicht nur in finanzieller, sondern auch in ideeller Hinsicht.

Als machthabende Instanz verstehen wir das Präsidium und die Universität Hildesheim in der Bringschuld, diese Forderungen umzusetzen. Die Arbeit einzelner diskriminierungskritischer Initiativen reicht nicht aus, um langfristig Strukturen abzubauen, die eine weiße Überlegenheit fördern.

Hauptunterzeichnend, die BIPOC-Hochschulgruppe der Universität Hildesheim

Im Namen der erstunterzeichnenden Initiativen, Gremien und Studierendengruppen:
AFK*37, AG DenkMal und Mitarbeitende des Instituts für Sozial- und Organisationspädagogik, Allgemeiner Studierendenausschuss der Universität Osnabrück, Antirassismusreferat AStA TU Braunschweig, Artemis Kollektiv, AStA der HAWK, AStA – Vorsitz der Universität Hildesheim, Awareness*Hildesheim, BELLA triste Zeitschrift für Literatur, Café Brühlchen, Decolonize Hannover, DIE LINKE. Kreisverband Hildesheim, .divers Magazin, Fachschaft Erziehungswissenschaft der Universität Hildesheim, Fachschaft Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim, Fraktion DIE LINKE. im Stadtrat Hildesheim, Fraktion DIE LINKE. im Kreistag Hildesheim, First Generation Student, FLINT*chen, GEW Hochschulgruppe Hildesheim, Grüne Jugend Hildesheim, HerAbout, Hildesheimer Bündnis gegen Rechts, Hi*queer, Hoki Hildesheim, Initiative Zwischenmensch, ISD – Initiative Schwarze Menschen Hannover; Regionalgruppe Hannover, KAFRI – Schwarzes Bildungskollektiv für Empowerment und Rassismuskritische Bildung, Kreisverband Hildesheim von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, Kunstraum 53, Lachs 25, Maloja Festival, MoWesta, No Border No Problem, Prosanova 2020, rapid arts movement, Rhythms of Resistance, SCHLAU e.V., SDS Hildesheim, SOLO, Studierendenrat der Universität Osnabrück, StuPa Universität Hildesheim, State of the Art 11, TDT Hildeseheim, Theaterhaus Hildesheim, transeuropa fluid


Wenn euch noch Gruppen einfallen oder ihr als Initiative unterzeichnen wollt, schreibt an redaktion@diversmagazin.de. Wir brauchen den gesamten Namen der Gruppe und falls vorhanden/gewünscht das Logo als jpg-Datei.


1 Pressestelle Universität Hildesheim: https://www.uni-hildesheim.de/neuigkeiten/campusfest-bei-sonnenschein-und-preise-fuer-herausragende-studentische-initiativen/

2 Ferner sagte der Präsident, er würde schließlich auch nicht von »Schwarzen Männern« sprechen. Dieses Zitat steht nicht im Haupttext, da es ein diskriminierendes Stereotyp reproduziert. Dennoch ist die Erwähnung wichtig, um die Sachlage zu verdeutlichen.

3 Zusätzlich wird in dem Bewerbungsschreiben “weiß” nicht als Hautfarbenbeschreibung verwendet, sondern als »normstiftende Position wahrgenommen, die mit kulturellen, finanziellen und bildungsbezogenen Vorteilen einhergeht« (Bewerbung der BIPOC Hochschulgruppe für „Preis für herausragende studentische Initiativen“, vgl. auch Millay Hyatt (2015): Critical Whiteness.Weißsein als Privileg. Deutschlandfunk.) Diese Verwendung der Bezeichnung “weiß” ist im wissenschaftlichen Diskurs (auch an der Universität Hildesheim) üblich.

4 Aus der Bewerbung der BIPOC-Hochschulgruppe zum Preis des Präsidiums übernommen:  »Dabei versteht sich die BIPOC-Gruppe Hildesheim als intersektional denkende Initiative, die sich gleichzeitig Sexismus, LGBTQ- und klassenbasierter Ausgrenzung entschieden entgegenstellt.«

5 »[…] Sie ⦗die Universität⦘ die Vielfalt des Einwanderungslandes  respektiert und die Integration fördert.« https://www.uni-hildesheim.de/profil/leitbild/

6 vgl.: “The document becomes not only a form of compliance but of concealment, a way of presenting the university as being “good at this“ despite not being “good at this“ in ways that are apparent if you look around (an obviousness that is probably more obvious to diversity workers than many others given that institutional habits can protect those who inhabit institutions from seeing what is around).” Ahmed, Sara: “On Being Included. Racism and Diversity in Institutional Life” Duke University press, Durham and London, 2012, S. 102

7 Ahmed, Sara: “On Being Included. Racism and Diversity in Institutional Life”  Duke University Press, Durham and London, 2012, S.35

8 Weiter schreibt sie: »[…] Insofern ist es etwas wohlfeil, sich über Hautfarbe als Kategorie zu echauffieren, wenn die eigene Hautfarbe keine Rolle spielt im Alltag, es ist bequem, über Geschlecht als Kategorie herzuziehen und anderen vorzuwerfen, sie machten daraus eine Ideologie, wenn das eigene Geschlecht nicht in Zweifel gezogen oder benachteiligt wird, es ist einfach, Sexualität für etwas Intimes und Privates zu halten und irritiert zu reagieren, dass andere darüber sprechen, wenn der eigenen Sexualität zugestanden wird, etwas ganz Normales und Persönliches zu sein.« https://www.sueddeutsche.de/politik/carolin-emcke-kolumne-rassismus-1.4439103

9 https://www.lexico.com/en/definition/reverse_racism

10 https://www.zeit.de/kultur/2018-06/diskriminierungen-opfer-taeter-politisierung-opferkultur-gewalt

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