Mit „To All The Boys I‘ve Loved Before“ fand bereits im letzten Jahr eine Amerikanerin mit asiatischem Background einen Platz bei Netflix. Da diese Repräsentation noch immer selten ist, ist „The Half Of It“ wichtig. Aber Alice Wus neuer Streifen ist vor allem wegen seiner Queerness noch wichtiger! Unsere Autorin Simone Bauer ist begeistert.
Es gibt die Art von Filmen, die unsere Jugend geprägt haben. Die wir immer wieder sehen können, auch Jahrzehnte später. Der Grund mag sich ändern, aus Identifikation wird Nostalgie, aber es gibt da dieses Genre fast zeitloser Teeniestreifen, die uns einfach berühren. Wäre da nicht ein Problem: Sie sind eben nur „fast“ zeitlos.
Denn John Hughes schrieb nun mal damals keine queere Lovestory. Und wir alle kennen ja diesen Wehrmutstropfen: Ein Medienprodukt könnte so perfekt sein, wenn zum Glück nicht noch ein wenig Identifikationsmöglichkeit fehlen würde.
Hier kommt Alice Wu ins Spiel. Alice Wu inszenierte bereits 2004 einen der besten Lesbenfilme überhaupt. „Saving Face“ kommt ohne zu krasse erotische Szenen aus, wurde durch die Linse einer Frauenliebenden Frau produziert, ist lustig, ohne klamaukig zu sein, kurzum, „Saving Face“ ist wunderschön. Während sie damit zeigen wollte, dass es nie zu spät ist, sich zu verlieben, kann die Hauptfigur in „The Half Of It“ gar nicht so richtig an die Liebe glauben.
Wus Produktion für Netflix landete pünktlich zum Feiertag am 1. Mai auf dem Streamingdienstleister. Der Film kommt mit zwei Dingen daher, die man so nicht von „Saving Face“ kennt – übermäßig viele Zitate, unter anderem von Oscar Wilde, und gelegentlicher Tricktechnik. Ansonsten ist der Film, der unter dem deutschen Titel „Nur die halbe Geschichte“ läuft, unfassbar schön gefilmt und atmosphärisch. Der Soundtrack ist nicht überladen, konzentriert sich aber auf ein paar tolle, alte Songs, wie Sharon Van Ettens „Seventeen“ und „If You Leave Me Now“ von Chicago.
Es ist jedoch nicht nur die queere Geschichte, die „The Half Of It“ zu einem ganz besonderen Teeniefilm macht, der sicherlich ähnlich inspirierend sein wird für die Zuschauer*innen wie „Love, Simon“ oder „Call Me By Your Name“. Noch immer sind in Hollywood Schauspieler*innen mit asiatischem Background wenig gefragt. Natürlich gibt es da gelegentlich den einen Charakter, doch jahrzehntelang war es den Serien- und Filmmachenden dafür herzlich egal, ob man einen Koreaner als Japaner verkaufen kann. Darum machte „Crazy Rich Asians“, ebenfalls seit Ende April bei Netflix verfügbar, beim damaligen Kinostart so eine Welle. Hier war nicht nur der Cast asiatisch-amerikanischer Herkunft, sondern auch das Team.
Mit Leah Lewis wählte Alice Wu eine Schauspielerin, die bereits aus dem sehr queeren und diversen „Charmed“-Reboot bekannt ist, wo sie die besessene Angela Wu spielte. Man merkt allerdings, dass sie fast zehn Jahre älter als ihr Charakter ist. Das trägt zu einer unfassbaren Coolheit bei, die Ellie Chu an den Tag legt.
Aber diese Lässigkeit macht schließlich den Zauber aus, der den einen Coming-of-Age-Film vom anderen unterscheidet. Ellie ist wahnsinnig abgeklärt:
„Wie viele Menschen finden die perfekte Liebe? Und wenn, wie schaffen sie es, dass sie hält?“
Zunächst wirkt sie mit dem niedergeschlagenen Blick unter ihrer Brille, ihrer Sorge um ihren verwitweten Vater, ihrem Fahrrad, mit dem sie an endlos viel Wald vorbeiradelt, und ihren Checklisten brav. Doch in Wirklichkeit betreibt sie ein Hausaufgabenbusiness. Darüber kommt Footballer Paul (Daniel Diemer) auf die Idee, sie zu bitten, einen Liebesbrief an die schöne Aster (Alexxis Lemire) zu schreiben.
Ellie weigert sich, insgeheim hat sie sich nämlich in Asters zauberhafte Chorstimme verliebt. Aber weil die Drohung in der Luft hängt, bald zuhause ohne Strom dazustehen, willigt sie doch ein. Aster, die eigentlich längst vergeben ist erweist sich als rasend klug und ehe sich Ellie und Paul versehen, schreibt Ellie unter Pauls Namen nicht nur Briefe, sondern Textnachrichten an Aster. Es entsteht dabei nicht nur eine schöne Freundschaft zwischen den beiden, sondern auch zwischen Paul und Ellies Vater (Collin Chou). Das alles in Rahmen einer fiktionalen Kleinstadt, Squahamish, in der alle immer ein bisschen zu sehr wie Holzfäller gekleidet sind.
Dass Multiinstrumentalistin Ellie dabei ihre eigenen Gefühle verschweigt, ist ein Dilemma. Hier sei herauszustellen, dass niemals das Thema inneres Coming-out behandelt wird. Es ist einfach, wie es ist, was „The Half Of It“ so herrlich macht. Außerdem:
„Nur für den Fall, dass du es noch nicht erraten hast, das ist keine Liebesgeschichte.“
Ellie erforscht ihre eigenen Gefühle über Paul. Sie geht sogar quasi mit den beiden ins Kino. Komödiantische Elemente sind so eingesetzt, dass sie nie albern wirken, dennoch durchaus laute Lacher entstehen. Im Grunde ist „The Half Of It“ ein modernes „10 Dinge, die ich an dir hasse“, das ja am Ende des Tages auch nur auf Shakespeare beruht.
Ja, oder wie ein queeres „Eine wie keine“. Immerhin coacht Ellie, ohne selbst je gedatet zu haben, Paul richtiggehend. Warum steht er nur so auf Aster? „Sie riecht wie frischgemahlenes Mehl.“ Paul, der grundsätzlich wirkt wie Joey aus „Friends“ und aussieht wie ein junger „Dexter“, beschützt Ellie bald vor Rassisten und kümmert sich auch sonst rührselig um sie.
„The Half Of It“ ist in der Handlung definitiv unvorhersehbar und kommt nicht ohne die ganz großen Kult-High-School-Punkte aus: Talentwettbewerb, große Reden werden unerwartet vor vielen Menschen geschwungen, plötzliches Ausbrechen aus der Realität. Letzteres mag tatsächlich etwas an Länge haben, was der einzige Minuspunkt eines sonst perfekten Films ist. Tipp: Unbedingt im Original gucken! Leahs „raspy voice“ kommt sehr viel besser als die Synchro.
Ein Artikel von Simone Bauer
Titelbild: (c) Netflix
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Simone Bauer (cis/weiblich) debütierte 2011 im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag und hat seitdem sechs Romane veröffentlicht, zuletzt 2018 „Butterflies – Die Göttin wird sich erheben“ mit einer Baby Butch in der Hauptrolle. Sie veröffentlichte zudem Kurzgeschichten bei verschiedenen Verlagshäusern und arbeitet als Journalistin für Online, Print und Radio, unter anderem für die MISSY.
Ihrer Leidenschaft, über japanische LGBT- und Popkultur zu schreiben, geht sie bei den Magazinen des Raptor Verlags nach.
(Fotocredit: Jasmin Frey)