Racial Profiling (Teil 2) – Die Verunmöglichung von Atmen

Dr. Vanessa E. Thompson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Vergleichenden Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind unter anderem kritische Rassismus- und Migrationsforschung und Black Studies.
Im Interview erklärt sie, was es mit Racial Profiling als „Verunmöglichung von Atmen“ auf sich hat und wieso die Kriminalisierung Schwarzer Menschen unmittelbar mit dem Sicherheitsversprechen an weiße Menschen zusammenhängt.

Frau Thompson, wie nehmen Sie den anti-rassistischen Diskurs in Deutschland wahr?

Der anti-rassistische Diskurs in Deutschland hat in den letzten Jahren nochmal ziemlich viel Aufwind bekommen, was natürlich auch mit den rassistischen Konjunkturen und den Kämpfen dagegen zu tun hat. Das sehen wir an den Black-Lives-Matter-Protesten, die seit der Tötung von George Floyd, Breonna Taylor und Tony McDade eine globale Dimension angenommen haben. Viele junge Menschen sind involviert, es haben sich unheimlich viele BIPoC-Gruppen gebildet – wir sehen hier wirklich eine neue Generation.

Gleichzeitig muss man sagen: Das entsteht nicht aus dem luftleeren Raum, sondern ist als eine Form von Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen, die natürlich viel weiter zurück geht. In Deutschland hat sich der Rassismus in seinen vielseitigen Formen – ich würde jetzt nicht unbedingt sagen, verstärkt, aber er ist nochmal sichtbarer geworden: Rechtspopulistische Strömungen sind weiter erstarkt, wir wissen von dem Anstieg rassistischer und antisemitischer Attacken, rechtsterroristische Ermordungen wie die in Hanau und Halle finden in immer kürzeren Abständen statt. Und natürlich die Todesfälle in Gewahrsam und anderen staatlichen Einrichtungen, die Alltäglichkeit des Racial Profiling, institutioneller Rassismus bei Behörden,… Das kreiert natürlich auch Widerstände, die in einer historischen Dimension der Kämpfe der Migration, aber auch der antikolonialen Bewegungen von Schwarzen Menschen und People of Color Anfang des 20. Jahrhunderts zu betrachten sind: Die Kämpfe der Migrant*innen in den 60er/70er Jahren, die Kämpfe von selbstorganisierten Geflüchtetengruppen, die Gründung der Neuen Schwarzen Bewegung in den 80er Jahren. Ich glaube, es ist wichtig, das in einer Kontinuität zu verstehen und anzuerkennen, dass auch die heutigen Bewegungen ganz viel schöpfen aus den Wissensbeständen und auch Fehlern der Bewegungen der letzten Generation.

Wie schätzen Sie das Potential dieser Bewegungen ein?

Ich sehe die Bewegungskraft optimistisch: Soziale, und vor allem anti-rassistische und intersektionale Bewegungen sind Voraussetzung für gesellschaftliche Transformation und müssen als Prozesse der Demokratisierung und Dekolonisierung der Gesellschaft betrachtet werden.

Es ist unheimlich viel passiert in den letzten Monaten, an Organisation, an Solidarität aber auch an der Produktion marginalisierten Wissens. Es wird viel über Allianzen nachgedacht und in Bewegung gebracht, auch wenn das nicht immer einfach ist. Themen wie Abolitionismus*, die ja auch schon länger Teil politischer Kämpfe und kritischer Gesellschaftstheorien sind, werden aufgenommen und mit Bezug auf den deutschen Kontext diskutiert. Es ist aber auch wichtig, die reproduzierten Unsichtbarkeiten in den Blick zu nehmen. Hier spielen die Medien eine wesentliche Rolle. Wie wird das Thema in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft aufgenommen und verhandelt – medial, politisch, gesamtgesellschaftlich? Warum wurde so viel über die USA berichtet, aber verhältnismäßig wenig über die rechtsterroristischen Ermordungen und den Widerstand dagegen in Hanau und Halle? Was ist mit den Tötungen von mehrfach marginalisierten Personen? Welche Unsichtbarmachung findet da in Bezug auf den hiesigen Kontext statt?

Sie forschen zu „Polizieren von Schwarzsein als Verunmöglichung von Atmen“. Was kann ich mir darunter vorstellen?

Polizieren verweist auf einen gesellschaftlichen Prozess der Kontrolle und Kriminalisierung, der über die Institution der Polizei hinausgeht. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist, dass Polizieren intersektional verläuft, das heißt entlang verschränkter Ausbeutungs-, Unterdrückungs- sowie Entmenschlichungsverhältnisse: Rassismus, Heterosexismus, Migrationsregime, Colourism, sozio-ökonomische Ausbeutung. Denn Polizieren drückt sich nicht nur durch rassistische Prozesse aus, sondern immer in Wechselwirkung mit anderen Unterdrückungsformen. Dieser Prozess ist historisch in die gesellschaftlichen Strukturen im rassifizierten und vergeschlechtlichen Kapitalismus eingeschrieben, auch in Europa, sprich: Wie ist eigentlich die Geschichte der Polizei (beispielsweise im Kolonialismus und Nationalsozialismus)? Und wie hing die Praxis des Polizierens ganz wesentlich mit der Kontrolle von gewissen Bevölkerungsgruppen zusammen, oft für den Erhalt kolonialer und kapitalistischer Ausbeutungsprozesse und Besitzverhältnisse? Das sehen wir zum Beispiel an der innereuropäischen, wenn auch unterschiedlichen, Kontrolle von Sinti*zzi und Rom*nja, Jüd*innen, aber auch außerhalb Europas in den ehemaligen deutschen Kolonien. Diese Formen der Kriminalisierung und Entmenschlichung haben sich historisch zwar auch gewandelt. Aber die historische Dimension ist wichtig, um zu verstehen, inwiefern Formen des Polizierens – Praktiken der Kontrolle, Kriminalisierung und Entmenschlichung – in unserer Gesellschaft auf vielen Ebenen noch heute wirken und sich reaktualisieren.

Und was hat es in dem Zusammenhang mit der Verunmöglichung von Atmen auf sich?

Ich verstehe Polizieren von Schwarzen Menschen als eine Form der Verunmöglichung von Atmen. Ich lehne mich da an den antikolonialen Theoretiker Frantz Fanon an, der den Begriff des „combat breathings“ geprägt hat, also eines Atemzustands wie unter einer konstanten Belagerung. Denn es geht nicht nur um ein physisches, sondern auch um ein soziales und gesellschaftliches Atmen: das Wegrennen vor der Polizei, das schnelle Atmen bei einer Durchsuchung oder Kontrolle durch die Polizei, das stockende Atmen, wenn Menschen Alltagsrassismus erfahren, aber natürlich auch, wenn wir an das systematische Sterben, das Ertrinkenlassen auf dem Mittelmeer denken. Schwarze Menschen, Menschen of Color, migrantisierte und mehrfach marginalisierte Menschen sind in postkolonialen Gesellschaften vielen Formen des Polizierens ausgesetzt und dabei spielt Atmen oder besser gesagt: die Einschränkung bis hin zur Verunmöglichung von Atmen eine ganz wesentliche Rolle.

Welche Mechanismen führen dazu, dass sich rassistische Denkweisen gesellschaftlich manifestieren?

Es ist wichtig, Rassismus als ein gesellschaftliches Unterdrückungs-, Ausbeutungs- und Dehumanisierungsverhältnis zu verstehen. Und das läuft in unterschiedlichen Bereichen zusammen: im Bildungs- und Justizsystem, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, in den Wissensproduktionen. Wer wird ständig medial als kriminell dargestellt? Wie werden bestimmte Menschengruppen, zum Beispiel auch im Bildungssystem, zu „Anderen“ gemacht und erfahren systematische und strukturelle Ausschlüsse? Wie werden Menschen repräsentiert oder auch gar nicht, indem weiß-sein als Norm gilt? Welche Geschichten werden über wen erzählt? Diese Zusammenhänge sind wesentlich daran beteiligt, dass sich rassistische Denkweisen verfestigen, kontinuierlich bestätigt und reproduziert werden.

Gleichzeitig spielen materielle Ausbeutungsprozesse eine ganz wichtige Rolle. Welche Gruppen sind überproportional von Armut betroffen? Welche Arbeitsbereiche, wie die Care-Arbeit oder Landwirtschaft, sind nicht nur vergeschlechtlicht, sondern auch rassifiziert? Wer hat gar keinen Zugang zum Arbeitsmarkt aufgrund von Illegalisierung und strukturellen Ausschlüssen? Rassifizierte Denk- und Repräsentationsweisen spielen immer auch mit rassifizierten Unterdrückungsverhältnissen zusammen.

Wie hängt der „weiße Blick“ (auf die Polizei) damit zusammen?

Der „weiße Blick“ der Veranderung wirkt auf unterschiedlichen Ebenen. Viele wichtige Schwarze Theoretiker*innen wie bell hooks haben gezeigt, wie dieser Blick als Machtverhältnis durch Institutionen wirkt und dabei gewisse Anrufungen und Subjektverständnisse produziert. Die Polizei bedeutet für rassifizierte Subjekte, für marginalisierte Bevölkerungsgruppen nicht nur keine Sicherheit. Wir müssen sogar so weit gehen und sagen: Die Verunsicherung von Schwarzen Menschen hängt unmittelbar mit der Sicherheit weißer – vor allem wohlhabender – Menschen zusammen und zwar auch auf der Ebene der subjektiven Sicherheit. Das heißt, wir haben hier ein staatliches Sicherheitsversprechen, das differenziell ist: Die Sicherheit der einen hängt mit der Kriminalisierung der anderen zusammen.

Erklärt dieser Umstand auch, wieso Rassismuserfahrungen häufig infrage gestellt werden?

Wir hören immer wieder Argumente wie: „Ja, aber es sind doch auch diejenigen, die kontrolliert werden müssen“, weil dieses Sicherheitsversprechen so eng daran gekoppelt ist und eben auch subjektiv wirkt. Das steht natürlich in Wechselwirkung zu Anrufungen an die Polizei. Auch die rechtliche Ebene spielt eine Rolle. Und hier geht es nicht nur um die Institution der Polizei und erst recht nicht um einzelne Polizeibeamt*innen, das geht komplett vorbei an der Analyse von institutionellem Rassismus. Hier geht’s nicht um Individuen, sondern um strukturelle, institutionelle Abläufe und gesellschaftliche Verhältnisse. Aber dieses Sicherheitsversprechen, das so stark an koloniale Macht- und Kontrollverhältnisse geknüpft ist, ist grundlegend für die Verunsicherung und Unsicherheit von marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Das sehen wir auch daran, dass es für viele weiße Menschen so schwierig ist, zuzulassen, dass es Racial Profiling gibt und es nicht als Einzelfälle abzutun, während rassifizierte Menschen Racial Profiling als Alltag beschreiben.

Können Sie das noch ein wenig genauer erklären?

Wenn wir uns Racial Profiling anschauen als eine Praxis des Anhaltens, des Kontrollierens, des Durchsuchens und damit auch der Dehumanisierung Schwarzer Menschen, dann sehen wir ganz oft auch die gesellschaftliche Rückwirkung; dass es eine gesellschaftliche Legitimation gibt, weil es sozusagen den Anschein hat, dass die Polizei ja jetzt die Richtigen kontrollieren würde. Das sehen wir auch daran, dass es so wenige Angebote von Zeug*innenschaft gibt, also sehr wenige Menschen stehen bleiben und die Sache kritisch beobachten, sondern oft einfach weiterlaufen – es gibt da eine Normalisierung. Und so wird dann natürlich auch gesellschaftlicher Rassismus reproduziert.

Wir sehen zum Beispiel gerade in gentrifizierten Stadtteilen den Anspruch der gut situierten, weißen Mittelschicht, diese Viertel „sicherer“ zu machen. Es sind nicht nur die polizeilichen Handlungen, sondern da haben wir eine Wechselwirkung, dass praktisch auch die Bevölkerung diese Praktiken einfordert als eine Grundlage für das Sich-sicher-fühlen.

Wie können wir ein gesellschaftliches Umdenken erreichen?

Es braucht sehr viel. Es ist natürlich schon viel passiert, würden jetzt vielleicht einige sagen. Schließlich wird mehr darüber gesprochen. Darauf darf man sich aber nicht ausruhen, und vor allem, wie liefen diese Diskussionen ab? Findet einfach nur ein Konsum von Gewalterfahrungen statt? Rassismus wird dabei immer noch auf der individuellen Ebene verhandelt – das Sammeln von Erfahrungsberichten würde ich das nennen. Institutionelle Verhältnisse können aus dem Blick geraten, wenn man auf dieser Ebene bleibt, anstatt wirklich zu fragen: Was braucht es denn für institutionelle und gesellschaftliche Veränderungen? Das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz wurde verabschiedet, was ein Erfolg ist, aber nicht reichen wird, weil gesellschaftliche rassistische Verhältnisse nicht nur über Fragen von Antidiskriminierung verändert werden, sondern über Zugang, Umverteilung von Ressourcen, Entkriminalisierung. Davon sind wir weit entfernt. Ein Beispiel: Saskia Esken spricht von latentem Rassismus in der Polizei – große Empörung. Geschweige denn, was rassismuskritische Gruppen machen, die oft gar nicht gehört oder eben zum Schweigen gebracht werden.

Wie kann sich diese Empörung und Ignoranz in Verständnis umwandeln?

Es ist wichtig – und das haben viele Leute erkannt, die in Deutschland schon lange rassismuskritische Arbeit machen und das auch schon lange fordern –, endlich auf einer gesellschaftlichen Ebene Rassismus konsequent zu verhandeln und zu bekämpfen. Es geht darum, die richtigen Fragen zu stellen. Denn es geht nicht mehr um die Frage, ob Deutschland rassistisch ist oder nicht – es ging eigentlich noch nie um diese Frage. Und es geht auch nicht um die Frage, ob die Polizei rassistisch ist oder nicht, sondern es geht darum, Rassismen, rassistische Denkweisen, die durch Institutionen oder Praktiken wirken, systematisch abzubauen. Und das impliziert eben auch eine intersektionale Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse. Viele der sozialen Bewegungen, in den USA aber auch in Europa, setzen sich genau dafür ein.

Ist Zuhören hier das Stichwort?

Es geht weit darüber hinaus, auch wenn die subjektive Ebene des Zuhörens und Verlernens wichtig ist. Denn es geht wirklich darum, sich konsequent und systematisch mit dem Abbau rassistischer und intersektionaler Strukturen und Verhältnisse auseinanderzusetzen. Und da spielen alle Ebenen eine Rolle. Für einzelne Personen heißt das, nicht nur auf eine Black-Lives-Matter-Demo zu rennen und sich toll zu fühlen, sondern sich auch auf dem Arbeitsplatz, im Bekanntenkreis, im Freund*innenkreis antirassistisch zu positionieren, zu engagieren. Politisch müssen natürlich die nötigen Gesetzesänderungen geliefert werden – beim Thema Antidiskriminierungspolitik kann noch ganz viel gemacht werden, aber eben auch im Rahmen des Strafrechts, dem Aufenthalts- und Asylrecht. Einhergehen müsste dies mit der Förderung dekolonialer und abolitionistischer Projekte, der Investition in Institutionen der sozialen Gerechtigkeit, die Schaffung von Infrastrukturen – Wohnraum, Arbeit, etc. – für ein gutes Leben und für eine Gesellschaft der Vielen, die mit und nicht gegen die Umwelt lebt. Gleichzeitig passiert ja auch schon ganz viel – wie gesagt: Die Kämpfe finden nicht erst seit heute statt. Und da enden wir wahrscheinlich wieder da, wo wir angefangen haben, denn: Eine ganz wesentliche Kraft von radikaler Demokratisierung und Dekolonisierung für eine Welt der Vielen waren und sind soziale Bewegungen.

*Abolitionismus bezeichnete ursprünglich eine Bewegung zur Abschaffung von Versklavung. Der neuere Abolitionismus seit der Mitte des 20. Jahrhunderts konzentriert sich vor allem auf die Zurückdrängung bzw. Abschaffung sowie Transformation von Strafregimen und Herrschaftstechniken wie Gefängnissen und Lagern sowie der Polizei. Leitend ist die Vision einer Gesellschaft, die für die Verwirklichung von Gerechtigkeit keine Gewalt benötigt – keine Repression, Kriminalisierung und Inkarzerierung (Einsperrung).

Interview: Lena Toschke
Titelbild: Alexander Vorbrugg

Zurzeit studiert Lena Medizin in Münster, ihre Leidenschaft gilt jedoch vor allem dem Schreiben. Sie liebt Poetry Slams und beschäftigt sich viel mit Philosophie und feministischer Literatur.

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