CN: sexuelle Belästigung, Gewalt
Seit dem Sommer 2020 sind sie kaum noch übersehbar. In nahezu allen großen Städten zieren bunte Kreidesprüche das Pflaster. Doch gerade zu Beginn wusste noch kaum jemand, was hinter diesen Botschaften steckt. Aus diesem Grund haben wir im August 2020 ein Interview mit der Gründerin der Instagram Initiative @catcallsofhildesheim geführt, die uns die Geschichte hinter den Kreidesprüchen erzählt.
Wie bist du auf die Idee gekommen, das Projekt in Hildesheim zu starten und wie lange bist du schon dabei?
Ich habe die Seite im Juli 2019 gegründet. Dazu kam es, weil ich auf Instagram über @catcallsofNYC gestolpert bin. Da fand ich das Projekt schon klasse und hab es mir auch hier gewünscht, aber wie das immer so ist, brauchte es noch etwas mehr. Als ich dann am Königsworther Platz eine Ankreidung von @catcallsofhannover sah, war ich richtig begeistert, dass es das auch hier in der Nähe gibt. Auf dem Heimweg aus Hannover wurde ich belästigt. Da reichte es mir und ich habe Kreide gekauft.
Bekommst du viele Nachrichten von Betroffenen?
Je nachdem. Manchmal sind es wöchentlich etwa zwei bis drei Einsendungen, manchmal täglich zwei bis drei. Vor allem im Sommer. Natürlich sind das lange nicht so viele wie beispielsweise in Hannover, aber jede ist eine zu viel. Bisher sind im Rahmen von Catcalls of Hildesheim 53 Erlebnisse und Teilerlebnisse auf den Hildesheimer Straßen angekreidet worden. Im Verhältnis zu dem, was passiert, ist das allerdings überhaupt nichts. In fast jeder Nachricht steht, dass der Person sowas immer wieder passiert. Ich finde, dass 2 Einsendungen wöchentlich an sich nicht viel sind, weil ich weiß, wie viel bei anderen Accounts reinkommt. Geht man aber allein davon aus, dass jede Woche 2 Frauen oder weiblich gelesene Personen belästigt werden, finde ich das schon nicht wenig. Natürlich würde ich mir wünschen, jedes Erlebnis ankreiden zu können, mit Nachrichten überflutet zu werden und jeder*m Betroffenen eine Stimme geben zu können, aber eigentlich wäre es schön, gar keins ankreiden zu müssen.
Wie ist das Gefühl all diese Geschichten gesendet zu bekommen? Soweit ich gesehen habe, berichten ja unter anderem auch sehr junge Menschen. Gab es eine Geschichte, die dich persönlich besonders berührt hat?
Ehrlich gesagt fühlt es sich schrecklich an. Jede Nachricht ist ein Beweis, dass weiblich gelesene Personen sich nie so sicher fühlen können wie männlich gelesene Personen – egal, was sie tragen, was sie tun oder wie alt sie sind. Es ist erschütternd von so viel Gewalt, Respektlosigkeit und Machtausübung zu lesen. Aber es passiert – jeden Tag. Auch Kindern. Ich habe ein Erlebnis eines Mädchens angekreidet, das zu dem Zeitpunkt des Vorfalls elf Jahre alt war. Und deshalb ist es besser es zu lesen, als es nicht zu lesen. Darum freue ich mich auch über jede einzelne Einsendung, denn sie bedeuten, dass Menschen solche Respektlosigkeiten nicht länger hinnehmen und/oder als normal empfinden wollen.
Es gibt einige Einsendungen, die mich länger beschäftigen als andere. Irgendwann stumpft man ein bisschen ab und lässt das nicht mehr allzu nah an sich heran, aber vor allem bei Erlebnissen, bei denen jemandem aus einem Auto etwas zugerufen oder hinterhergepfiffen wurde, bekomme ich eine ganz fiese Gänsehaut, weil das einfach so, so böse enden kann. Eine konkrete Erfahrung, die wir nach langem Überlegen angekreidet haben, bereitet mir noch immer ein flaues Gefühl im Magen. Eine junge Dame wurde verfolgt, ihr nein wurde ignoriert, dann zog der Täter ein Messer und drohte ihr. Glücklicherweise ist ihr nichts weiter passiert, da ihr Gesuch nach Hilfe Erfolg hatte.
Jede Nachricht ist ein Beweis, dass weiblich gelesene Personen sich nie so sicher fühlen können wie männlich gelesene Personen – egal, was sie tragen, was sie tun oder wie alt sie sind.
Wie reagieren Menschen darauf, wenn du die Sprüche in der Stadt auf den Boden malst?
Gerade von jungen Menschen und älteren Frauen bekomme ich tendenziell positive Reaktionen, es gibt aber auch Leute, die uns im Vorbeigehen Beleidigungen an den Kopf werfen oder selbigen verständnislos schütteln. Generell überwiegt positives Feedback dem negativen maßgeblich.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie einmal ein großer, breiter Mann mit Glatze energisch auf mich zustapfte. Ich rechnete damit, er würde mich anschreien, anpöbeln, vielleicht körperlich anfeinden. Er wirkte sehr wütend. Das war er auch, denn meine Kreide erinnerte ihn daran, wie seine Frau beim Stillen in der Öffentlichkeit belästigt und entblößt wurde. Er fand unsere Arbeit sehr wichtig und wir hatten ein sehr angenehmes, konstruktives Gespräch.
Ansonsten wundern sich viele Menschen, warum Belästigung ein Problem ist. Ich hab mal mit einem Jungen gesprochen, der mir erzählte, sein Kumpel rufe Mädels total oft etwas hinterher. Daraufhin fragte ich ihn, ob das denn erfolgreich sei. Er verneinte und fragte, warum das eigentlich nicht so sei, Rufe wie “Ey, du Geile!” wären ja schließlich Komplimente. Er hat mir interessiert zugehört, als ich ihm erklärte, dass die meisten Frauen und weiblich gelesene Personen dann Angst haben, weil sie ihn ja nicht kennen und nicht wissen, was er will und, dass sowas oft in Gewalt endet, einfach unangenehm und nicht sehr wertschätzend ist. Er bedankte sich und kündigte an, das seinem Kumpel auch zu erzählen.
Hast du wegen des Projektes auch schon negatives Feedback oder vielleicht sogar Anfeindungen bekommen?
Ja, mehrfach. Ich gebe mal zwei Beispiele. Ich war gerade dabei, “Ey, ich glaub’, du bist meine Traumfrau” anzukreiden, als von hinten ein Mann ankam, den ich erst bemerkte, als er genau das lautstark vorlas. Ich hab’ mich total erschrocken, weil ich ihn ja nicht gesehen habe. Er hat mich ausgelacht. Ob das jetzt eine Anfeindung war? Wohl eher nicht. Aber als sonderlich respektvoll würde ich es auch nicht bezeichnen. Ein anderes Mal war ich gerade dabei, einen körperlichen Übergriff anzukreiden. Ich war fast fertig, als ein Mann auf mich zu kam, die Schrift las und mich anpöbelte, was das denn bitte solle. Im Vorbeigehen beschwerte er sich lauthals, Frauen wollten doch angegraben werden. Das hab’ ich dann ein paar Tage später auch angekreidet.
Würdest du dich persönlich als Feministin bezeichnen?
Definitiv. Genau genommen als intersektionale Feministin. Warum auch nicht? Ich finde es wichtig, Dinge beim Namen zu nennen, auch, wenn manche Menschen das falsch verstehen und den Begriff “Feministin” mit “Männerhassende Tyrannin” verwechseln. Als Person, die sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter einsetzt, bin ich Feministin – nicht mehr, nicht weniger. Der intersektionale Aspekt beleuchtet dabei grob gesagt, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Probleme haben. Juliane Frisse beschreibt das in ihrem Buch “Feminismus” meiner Meinung nach sehr treffend: “Feminismus intersektional zu denken bedeutet, sich erstens bewusst zu machen, dass Menschen aus vielerlei Gründen Benachteiligung erfahren, nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch wegen ihrer Hautfarbe, ihres Alters, ihrer sozialen Herkunft, […]. Und es bedeutet zweitens, anzuerkennen, dass Menschen oft von mehreren dieser Diskriminierungen gleichzeitig betroffen sind.” Konkret gesagt: als weiße Frau mit festem Wohnsitz habe ich in der Gesellschaft andere Probleme als ein weißer Mann mit festem Wohnsitz: ich habe weniger Privilegien als er. Noch andere Probleme hat allerdings beispielsweise eine schwarze Frau oder eine obdachlose Frau – oder eine schwarze und gleichzeitig obdachlose Frau. Diese “Staffelung” anzuerkennen, finde ich für eine Bewegung, die nach Gleichberechtigung strebt, unerlässlich.
Kann man euch und euer Projekt als Außenstehende*r unterstützen?
Grundsätzlich hilft es uns enorm, wenn Leute überhaupt erstmal von uns erfahren. Anders gesagt: Freund*innen von uns erzählen, Posts teilen, Ankreidungen “spotten” (auf der Straße sehen und dann als Foto online teilen) und natürlich Erlebnisse einsenden, denn davon lebt die Seite. Dazu sei gesagt: grundsätzlich ist nichts zu klein, zu lange her oder zu unwichtig, um angekreidet zu werden. Es ist eure Entscheidung, ob ihr euch belästigt fühlt. Wenn wir uns nicht wohl dabei fühlen sollten, ein Erlebnis anzukreiden, finden wir einen anderen Weg, euch Gehör zu verschaffen, beispielsweise über unser Story-Format “ankreidenplus”.
Was erhoffst du dir als Resultat von dem Projekt? Meinst du es wird ein Resultat oder einen Zeitpunkt geben, an dem das Projekt beendet werden kann?
Dass wir irgendwann die Kreide verstauen, uns high-fiven und das Ende von sexueller Belästigung feiern, sehe ich ehrlich gesagt nicht. Dazu passiert sie zu häufig und der Kampf dagegen stößt auf zu viel Unverständnis.
Ich erhoffe mir, einige Menschen zum Umdenken zu bewegen und auch dazu, zu hinterfragen, was ihnen vielleicht selbst passiert ist, sie aber nie als unangebracht wahrgenommen haben. Durch das Ankreiden geben wir Betroffenen eine Stimme, die man in so einer Situation oft einfach nicht erheben kann. Dafür haben sich schon einige bei uns bedankt, sowas möchte ich aufrecht erhalten.
Ich möchte ganz essentiell ein Bewusstsein dafür schaffen, dass sexuelle Belästigung ein großes, weitreichendes Problem ist – auch heute noch. Unabhängig davon, was man trägt, wo man ist, wann man rausgeht, oder, oder, oder.
Das Interview wurde im August 2020 von Lilith Sievers geführt und ist ebenfalls auf dem Kulturpraxis-Blog des Fachbereichs 2 der Universität Hildesheim erschienen.
Titelbild von Diana Parkhouse auf Unsplash
Gut machst Du das. Viel Segen und Kraft wünsche ich Dir!
LikeLike