Mit „Je lauter die Stille“ lieferte Lena Luisa Leisten im August 2021 ihr Roman-Debüt, in dessen Zentrum Mila steht. Aus Herzschmerz, Freundinnenmomenten und bröckelnden Familienfassaden sollte eigentlich ein Empanzipationsakt hervorgehen, es bleibt jedoch bei stereotypen Charakteren und fehlender Reflexion.
Es sind keine leichten Zeiten für Studentin Mila, die kurz vor ihrer Bachelorarbeit über Johann Wolfgang von Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ steht: Der Leistungsdruck nimmt mit den letzten verbleibenden Prüfungen zu, ihr Schwarm Robin muss erst noch geknackt werden und ihr viel beschäftigter Vater scheint eine Affäre zu haben.
Lena Luisa Leistens Debüt-Roman lässt uns in Milas bürgerlich situiertes Leben in Berlin-Charlottenburg blicken: Die 22-Jährige studiert Theaterwissenschaften an der FU, lebt in der Wohnung neben ihren Eltern, trifft sich mit ihrer Freundinnen-Clique und hat wildes Herzrasen, wenn sie an Robin denkt.
Nur widerwillig erzählt sie ihren so unterschiedlichen Freundinnen von Robin, den sie auf einer Party kennengelernt hat und dem sie so gern ganz zufällig wieder begegnen würde. Die disziplinierte Jurastudentin Mona, Schauspielerin Fanny und Ur-Berlinerin und Designstudentin Emma hecken für sie Pläne aus, gehen mit ihr zu Partys, für die sich Robin auf Facebook interessiert und ermutigen sie, ihn näher kennenzulernen. Doch die zurückhaltende Mila hat ganz andere Sorgen: Facebooks Algorithmus hat ihr eine gewisse Marie Gramont als potentielle Bekannte vorgeschlagen. Sie ist eine bekannte französische Schauspielerin und eine kurze Suche durch die geposteten Bilder ergibt schnell eine böse Überraschung. Mila erkennt auf einem Foto ihren eigenen Vater und durchsucht daraufhin dessen Arbeitszimmer nach Indizien, die sie in Form eines Liebesbriefes findet. Überfordert mit diesen neuen Informationen und ihren Gefühlen zieht sie sich zurück. Einzig Fanny, die Marie Gramont bei einem Dreh kennengelernt hat und deren Mutter in Paris lebt, bringt sie dazu, die Initiative zu ergreifen. Gemeinsam reisen die Freundinnen für einen Kurztrip nach Paris, treffen sogar auf die Gesuchte und unterhalten sich mit ihr. Die Wut, von der Mila dachte, dass sie sie Marie Gramont gegenüber empfinden müsste, ist mit dieser Unterhaltung schnell verflogen. Dennoch konfrontiert sie ihren Vater nach ihrer Rückkehr zunächst nicht mit ihrem Wissen.
Auch die Sache mit Robin ist nicht so einfach. Als sie eines Nachts betrunken bei ihm vor der Haustür steht, lässt er sie bei sich übernachten und am nächsten Tag warten Croissants auf sie. Mila schämt sich für das nächtliche Intermezzo und zermartert sich das Gehirn darüber, ob sie damit alles zart aufkeimende zerstört haben könnte. Doch Robin sieht es nicht so eng wie Mila, die beiden treffen sich endlich zu einem ersten Date, begegnen sich immer öfter und räumen die Steine aus dem Weg, die ihnen auf ihrem Weg begegnen.
Der Roman ist zu zwei Dritteln in einer recht durchschaubaren Zopfdramaturgie geknüpft. Die Leser*innen lernen Mila und ihr Umfeld kennen, blicken auf Freundinnenschafts- und Beziehungskonzepte und erkennen Vermeidungsstrategien. Mila ist keine mutige Protagonistin oder Heldin, sie entzieht sich den meisten Konflikten und Reibungen und würde die Dinge am liebsten mit sich allein ausmachen. Schwärmerei lehnt sich an unbeantwortete Fragen innerhalb eines Familiengefüges und Meinungsverschiedenheiten mit der Clique, um sich dann bald wieder aufzulösen. Auflösen werden sich im letzten Teil ebenfalls gleich mehrere Dinge, die zuvor als gesetzt etabliert wurden. Hier lässt uns Lena Luisa Leisten nun recht abrupt in die Abgründe der Figuren schauen. Milas Eltern trennen sich, nachdem die Affäre ihres Vaters ans Licht kam, Fanny lässt eine große Distanz zu ihrer Mutter und tief liegende Probleme erkennen und Mona erschöpft sich an den Ansprüchen, die sie aufgrund ihrer Sozialisierung und ihres alkoholabhängigen Vaters an sich selbst stellt.
Spielt der Buchtitel „Je lauter die Stille“ zunächst noch auf die Pausen und das Unausgesprochene in allen Lebensbereichen Milas an, so bröckelt nun auch ihr soziales Netz. Als es in einer Clubnacht zu einem sexuellen Übergriff kommt, erlebt sie eine Retraumatisierung früherer verdrängter Grenzüberschreitungen durch ihren Ballettlehrer. Gefangen in Flashbacksegmenten und Überwältigungsmomenten verknüpft sie Erinnerungen. Mit einem Mal liegt eine ganz andere Vergangenheit hinter ihr als sie angenommen hatte. Schließlich gelingt es ihr, Mona von den Übergriffen zu erzählen, die einfühlsam und unterstützend reagiert. Dadurch beschließt Mila, auch ihren anderen Freundinnen davon erzählen zu können – die titelgebende Stille ist gebrochen und Mila findet durch die dunkelste Zeit ihres Lebens zu ihrer eigenen Stimme, um sich klar und laut zu positionieren.
Problematisch ist hier der plötzliche Wendepunkt. Was als eine Emanzipationsgeschichte angelegt ist, bekommt hier leider viel zu wenig Raum. Die lockere Erzählstruktur und die flachen Figuren sollen sich immer wieder aneinander reiben, werden jedoch nicht tiefer gehend beleuchtet, thematisiert oder in einen weiteren Kontext gesetzt, der die darauf folgende gewichtige Handlung für den*die Leser*in abfängt. Die Erzählstränge werden nicht genügend auserzählt, Stereotype werden bedient und das zentrale Motiv der sexualisierten Gewalt nicht ausreichend reflektiert. Da sich der Roman aber an eine junge Leser*innenschaft richtet, scheint es umso wichtiger, Kontextualisierungen und Vorschläge im Umgang mit diesem sensiblen Thema vorzunehmen. Kurz nach Milas Offenheit ihren Freundinnen gegenüber endet der Roman; es bleibt eine Art Ausblick auf ihr Leben nach dem Brechen der Stille. Die vermeintliche Lösung scheint hier zu einfach.
Eine Rezension von Inke Johannsen.
Ich habe den Roman auch gelesen und bin erstaunt über so eine Rezension – vor allem in einem Magazin, dem ja sonst an der Aufklärung zum Thema sexuelle Gewalt gelegen ist…
Zunächst mal geht hier inhaltlich einiges durcheinander, was für mich die Frage aufwirft, ob die Handlung überhaupt richtig gelesen wurde… Mila erzählt nicht an erster Stelle Mona von ihren Erlebnissen mit sexueller Gewalt. Sie versucht zunächst, es Emma zu erzählen, was ihr jedoch nicht gelingt. Dann überwindet sie sich und teilt sich ihren Freundinnen mit.
Und wenn sich die Rezensentin eingehender mit der Thematik befasst hätte, wüsste sie, dass das Brechen der Stille einer der schwierigsten und wichtigsten Schritte innerhalb des Emanzipationsprozesses ist. Dass der Protagonistin dies gelingt, ist ja wohl ein Erfolg und auch einer, der für eine große Reflexionsleistung spricht. Gerade jungen Menschen kann das eine Orientierung und ein positives Vorbild geben. Natürlich kann man fordern, dass die Geschichte bzw. Thematik weiter erzählt und reflektiert werden sollte, aber der Roman erhebt doch überhaupt nicht den Anspruch, den Verarbeitungsprozess eines Traumas bis ins letzte Detail auszuerzählen. Wer sich tatsächlich mit dem Thema sexuelle Gewalt befasst hat, weiß, dass das ein Prozess ist, der nie endet.
Und weiter zur Kritik der mangelnden Reflexion: Die Protagonistin reflektiert ihre Situation permanent und sehr eindrücklich, was grade durch die Wahl der Ich-Perspektive durch die Autorin ermöglicht wird. Die Geschichte ist so sehr nahbar und mal im Ernst: Natürlich findet ein junger Mensch, der sich gerade durch eine Retraumatisierung mit den eigenen Erfahrungen und Erinnerungen an sexuelle Gewalt konfrontiert sieht, noch nicht alle Antworten. Das muss sie/er aber auch gar nicht. Möglicherweise würde eine Einordnung des Geschehens durch eine auktoriale Erzählperspektive besser gelingen – sie ist aber nunmal in der Ich-Perspektive geschrieben, wodurch das Erzählte eine besondere Authentizität bekommt.
Dieser Roman kann jungen Menschen, die selbst Erfahrungen mit sexueller Gewalt gemacht haben, Hoffnung auf eine Bearbeitung des Themas und auch auf eine glückliche Beziehung geben. Allein dafür finde ich ihn absolut lesenswert und die Rezension mehr als fragwürdig.
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