Die verschwundenen Frauen von Guanajuato

Das Instituto Mexicano de Derechos Humanos y Democracia (Mexikanisches Institut für Menschenrechte und Demokratie) ist eine zivile Organisation, deren Fokus auf der Wahrung der Menschenrechte unter Berücksichtigung einer inklusiven Geschlechterperspektive in der mexikanischen Gesellschaft liegt. Für einen aktuellen Bericht zum Verschwinden von Frauen im Bundesstaat Guanajuato, stand das Institut im Dialog mit den betroffenen Familien und Überlebenden. Damit versucht das Institut die Strukturen des Phänomens des Verschwindens und sonstiger Gewalt gegen Frauen zu erkennen, daran zu erinnern und zur Wiederherstellung der Würde der Betroffenen beizutragen. Dabei wird die Verknüpfung zwischen dem Verschwinden von Frauen und anderen Verbrechen, im Kontext des Kriegs gegen die Drogen untersucht. Das Ergebnis ist ein Bericht über junge Frauen, die in Mexikos Drogenkrieg verschwinden.

Der Krieg gegen die Drogen

Das Verschwinden von Personen in Mexiko ist ein besorgniserregendes Phänomen. Seit der damalige Präsident Calderón 2006 der Drogenmafia den Krieg erklärte, stieg die Gewalt in Mexiko stark an. Das mexikanische Militär ging gegen die organisierte Kriminalität offensiv vor. Was eigentlich zum Schutz der Zivilbevölkerung gedacht war, führte für viele Zivilist*innen zum Tod durch Kreuzfeuer auf offener Straße zwischen den Drogenmafias und dem Militär.

Ein weiterer besorgniserregender Fakt besteht darin, dass seit Beginn des „Krieges gegen die Drogen“ die Zahl der vermissten Personen gestiegen ist. Allein in den letzten fünf Jahren verschwanden 98% der mehr als 100.000 als vermisst oder unauffindbar registrierten Personen. Dabei unterstützen die Behörden die Opfer und Hinterbliebenen nur unzureichend. In einer Phase tiefer Trauer sind die Familien oft auf sich gestellt, nach ihren vermissten Liebsten zu suchen.

Seit der ehemalige mexikanische Präsident Calderón die Politik verfolgte, die öffentliche Sicherheit in Mexiko zu militarisieren, schlugen seine Nachfolger einen ähnlichen Kurs ein. Der Begründung der Regierung, dies zum Schutz der Zivilbevölkerung zu tun, steht ein tatsächlicher Anstieg an Gewalt gegenüber. Ziel des Militärs war es die Anführer der Drogenmafias festzunehmen. Dies stellt keine langfristige Lösungsstrategie für die Bekämpfung der kriminellen Strukturen dar, da neue Anführer problemlos nachrücken. Es mangelt am Einsatz von Streitkräften und Ausbildungsverfahren, die auf Prävention und Deeskalation abzielen, um Zivilist*innen tatsächlich zu schützen.

Das Gewaltproblem in Zahlen:

Das Phänomen der Gewalt ist in Mexiko nicht landesweit gleich verteilt. 45% der Tötungsdelikte im ganzen Land ereignen sich in nur fünf der 31 Bundesstaaten: Guanajuato, den Bundesstaat Mexiko, Baja California, Chihuahua und Michoacán. Auf Guanajuato allein fallen dabei bereits 11% zu, was den Bundesstaat zum gewalttätigsten des Landes macht sowie dem mit den meisten Militäreinsätzen (Stand 2021). Als das Santa-Rosa-de-Lima-Kartell 2017 eine offene Konfrontation im Kampf um den Einflussbereich gegen das Jalisco-Kartell startete, stieg die Gewalt in Guanajuato. Dort kam es im Jahr 2007 noch zu 207 vorsätzlichen Tötungsdelikten. Diese Zahl stieg bis 2020 auf 5.091 an. Das sind im Durchschnitt 14 ermordete Menschen pro Tag. In den letzten zwei Jahren wurden 235 illegale Gräber gefunden, deren Existenz von den Behörden zuvor geleugnet wurde. Für kriminelle Gruppen wie das Santa-Rosa-de-Lima-Kartell wurde Guanajuato ein immer wichtiger Bundesstaat, durch seine geografische Mittellage in Mexiko, die Nähe zur Hauptstadt, die Nähe zur Bundesautobahn und der Möglichkeit zum Diebstahl von Kohlenwasserstoff aus lokalen Pipelines.

Die Muster der Gewalt

Im Jahr 2020 wurden 147 Frauen als vermisst gemeldet und in 2022 war jede Dritte von ihnen unter 18 Jahre alt.

Das Instituto Mexicano de Derechos Humanos y Democracia versuchte durch eine Reihe an Interviews mit Angehörigen der verschwundenen Frauen in Guanajuato, strukturelle Zusammenhänge zu deren Verschwinden zu untersuchen. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass die Gewalt die Frauen erfahren und die Gründe, warum sie diese erfahren, sich maßgeblich von der Gewalt gegenüber Männer unterscheiden. Oft ging aus den Interviews hervor, dass die Frauen in Armut oder sozialer Benachteiligung aufwuchsen, häusliche Gewalt erfuhren, früh die Schule abbrachen oder früh schwanger wurden. In einigen Fällen wurde das psychische Wohlergehen der Betroffenen vor ihrem Verschwinden durch vergangene Todesfälle oder Morde an nahestehenden Personen zusätzlich belastet. Durchlitten die Betroffenen solch einen Verlust, war das ein wichtiger Faktor für deren Schuldgefühle und Depressionen. Kamen die jungen Frauen aus gewalttätigen, abwesenden oder strengen Elternhäusern mit problematischem Drogenkonsum, wiederholten sich diese Muster in ihren eigenen Partnerschaften später häufig. Weitere Muster waren unausgeglichene Machtverhältnisse in den Beziehungen, wie ein hoher Altersunterschied oder dass die Männer in ihren Beziehungen selbst in Verbindung zu kriminellen Gruppen standen.

Prävention statt Stigmatisierung

Auch wenn Guanajuato aufgrund seiner geografischen Lage eine Schlüsselrolle für den Drogenhandel spielt, werden die Drogen nicht ausschließlich in den Norden des Landes transportiert. Guanajuato ist ein Endziel für Konsument*innen geworden. Methamphetamin, auch als Crystal Meth bekannt, wird in großen Mengen in Laboren hergestellt und bringt als synthetische Droge ein sehr hohes Suchtrisiko mit sich. Kriminelle Gruppen sahen in den Jugendlichen eine leichte Zielgruppe, an die sie ihre Produkte verkaufen konnten. Diese Faktoren führten zu erhöhten Abhängigkeiten illegaler Substanzen in der Bevölkerung. Trotz des problematischen Konsumniveaus fehlt es an staatlichen Präventionsmaßnahmen und Hilfsangeboten. Diese Abwesenheit des Staates und die Stigmatisierung des Konsums drängt betroffene Personen auf der Suche nach Hilfsangeboten schnell in inoffizielle und unsichere Räume. Solche Räume arbeiten im Verborgenen und halten sich nicht zwingend an Vorschriften zur Behandlung von Suchtkranken. Es wurden Fälle bekannt, bei denen Menschen mit dem Versprechen auf Hilfe vergewaltigt oder über Wochen festgehalten wurden.

Von den interviewten, verschwundenen Personen waren viele abhängig von Crystal Meth oder hatten es zuvor mehrfach konsumiert. Die Familien berichteten, dass Aufenthalte in den Rehabilitationszentren ohne positive Ergebnisse blieben.

Staatliche Hilfsangebote fehlen

Das mexikanische Bundesgesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität beinhaltet keinen differenzierten Ansatz für Frauen, die Opfer dieser Form von Gewalt werden.Das Ignorieren dieser Perspektive stellt ein Hindernis bei der Untersuchung dieser Fälle dar. Weil die Gewalt gegen Frauen im „Krieg gegen die Drogen“ in einem patriarchalen System von Machtbeziehungen eingebettet ist, braucht es diese juristische Unterscheidung.

Frauen nehmen in diesem bewaffneten Konflikt die Rolle eines „untergeordneten Subjekts“ ein. Die Machtstrukturen sind stark sexistisch und die Machtausübung ist Männern vorbehalten. In diesem System werden Frauen zu Dekoration, Unterhaltungsobjekten oder Sexpartnerinnen für die Mitglieder krimineller Gruppen degradiert. Der Bericht bezieht sich fast ausschließlich auf Gewalt, die von Cis-Männern gegenüber Cis-Frauen ausgeübt wird. Während der Recherche wurde ein Datensatz gesichtet, in dem zwei Betroffene als „männlich“ eingetragen wurden. In einer Akte wurden die Geschlechtsidentitäten der beiden Transfrauen nicht anerkannt, in einer zweiten Akte wurden die Transidentitäten nicht eindeutig dokumentiert. Das zeigt, dass die Gewalt auch trans und nicht-binäre Personen trifft, eine Rückverfolgung jedoch noch schwieriger ist, da es an öffentlichen Informationen mangelt und die Behörden die Gewaltdelikte nur auf Basis eines binären Geschlechtermodells erfassen.

Alle Fälle des Verschwindens der interviewten Frauen passierten in Kontexten von Kämpfen zwischen den Drogenkartellen. Da es die Pflicht des mexikanischen Staats ist, die Zivilbevölkerung und besonders vulnerable Gruppen wie zum Beispiel junge Frauen zu schützen, besteht dringender Handlungsbedarf. Die Verfolgung und Aufklärung des Verschwindens von Mädchen und Frauen sowie von Femiziden bleibt häufig ungelöst. Die Untätigkeit der Behörden, ihre Zusammenarbeit mit den Tätern und das Fehlen von Konsequenzen für die Täter sind strukturelle Ursachen für die Verletzbarkeit von Frauen in Guanajuato. Die Opferbetreuung seitens der Behörden erfolgt nachlässig und Opfer müssen fürchten, stigmatisiert zu werden. Gleichzeitig mangelt es den Behörden in Guanajuato an finanziellen und personellen Ressourcen, um das Problem des Verschwindens von Personen anzugehen. Die Herausforderung besteht darin, in Guanajuato eine Politik zu verfolgen, welche Prävention, Schutz, Bestrafung der Täter sowie Garantien für das Verhindern erneuter Gewalt voran treibt. Diese Maßnahmen müssen finanziell tragfähig und an die lokalen Gegebenheiten angepasst sein. Die vom Instituto Mexicano de Derechos Humanos y Democracia durchgeführte Untersuchung weist darauf hin, dass Guanajuato die schwere humanitäre Krise der Familien, die ihre Töchter verloren haben, ernst nehmen muss und unterstreicht die Notwendigkeit, dass die Behörden dem Problem ohne Stigmatisierung begegnen.


Fotos mit freundlicher Genehmigung vom Instituto Mexicano de Derechos Humanos y Democracia

Recherche und profunder Bericht von Marcela Villalobos
Sie ist eine mexikanische, antimilitaristische Aktivistin und Feministin. Sie studierte Jura in León und promoviert derzeit in Politik- und Sozialwissenschaften an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko. Dort arbeitet sie als Professorin für Jura, begleitet Kollektive auf der Suche nach verschwundenen Angehörigen in Guanajuato und ist Vorsitzende des Lenkungsausschusses von Amnesty International Mexiko.
Den kompletten Bericht findet ihr auf Spanisch auf der Website des Instituto Mexicano de Derechos Jumanos y Democracia.

Ein Artikel von Ella Jungheinrich
Sie studierte Wirtschaftswissenschaften in Leipzig. Für ein Semester studierte sie im Bereich Soziologie und Gender Studies am El Colegio de México. Der Aufenthalt in Mexiko-Stadt und die Auseinandersetzung mit geschlechtlichen Ungleichheiten sensibilisierten sie für die strukturelle Gewalt gegen Frauen in Mexiko, was als Motivation für die Arbeit beim Instituto Mexicano de Derechos Humanos y Democracia diente.

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